SOS: Notruf aus Gaza

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Samy Ajjour. Foto: Barbara Herbst
Samy Ajjour. Foto: Barbara Herbst
Louay YassinFoto: Barbara Herbst
Louay YassinFoto: Barbara Herbst
 

Nahrung, Medizin, Strom: Im Gazastreifen fehlt alles. Die Aggressivität steigt. Besonders die Kinder leiden. Ein Coburger und ein Palästinenser schlagen Alarm.

Für Samy Ajjour wäre alles anders gelaufen, hätte sein Vater damals nicht entschieden, zurückzugehen. "Ich bin in Deutschland geboren, in Dortmund. Papa beendete die Uni und wollte dann zurück. Seitdem lebe ich in Gaza." Aber vor 30, 40 Jahren sei es dort noch anders gewesen. Nicht so schlimm. "Es gab Material, es war einfacher, sich fortzubewegen - und fortzugehen."
Samy Ajjour leitet die SOS-Kinderdörfer in Gaza. Er ist der Mann, der vor Ort viel bewegt. Ein paar Tage hat er in Coburg verbracht, denn hier lebt der Sprecher der SOS-Kinderdörfer weltweit, Louay Yassin - auch wenn er meist in München arbeitet. Er ist die Stimme der Hilfsorganisation.
Im Hof eines Bamberger Eiscafés berichten die beiden, wie dramatisch sich die Lebensumstände der rund zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens verschlechtert haben. Ursachen sind vor allem der Konflikt mit Israel, die Blockade des Gazastreifens, und die Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Palästinenser-Organisationen Fatah und der radikalislamischen Hamas.
Zu politischen Fragen wollen sich die SOS-Vertreter aber nicht äußern.


Shisha und Scheidungen

"Uns geht es nur um die Kinder", sagt Louay Yassin. "Wir lernen ihnen, einander mit Respekt zu behandeln. Unabhängig von der Religion. Wir machen hier Friedensarbeit." Aber die Armut im Gazastreifen nimmt zu, es fehlt an Baumaterial, Medikamenten, Nahrung. Strom gibt's nur wenige Stunden am Tag. Auch vielen Hilfsorganisationen gehen Geld und Material aus. Umso dramatischer, weil, wie Ajjour sagt, 90 Prozent der Familien bei der Ernährung auf Unterstützung angewiesen sind. "Wir sehen oft Dosen der Vereinten Nationen, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum seit Jahren abgelaufen ist."
Die beiden appellieren eindringlich an die internationale Gemeinschaft, Gazas Kinder nicht zu vergessen. Das Gebiet sei überbevölkert, verseucht und verschmutzt. "Auch das Meerwasser ist verseucht." Ajjour erzählt, wie Baden und Fischfang in der Vergangenheit zum Alltag gehört hatten, wie es war, als es noch mehr Jobs gab. Heute haben die Menschen nichts. Und sie haben nichts zu tun.
"Sie stehen vor ihrem Zuhause, rauchen Shisha. Scheidungen nehmen zu. Handfeste Auseinandersetzungen nehmen zu." Der Zusammenhalt verschwinde. "Alles wird aggressiver und extremer. Auch religiös extremer."


"Die Gesellschaft explodiert"

Yassin spricht von einer Gesellschaft, die explodiert. "Es gibt kein Mitgefühl mehr." Ob mit Israel oder anderen Palästinensern - viele Kinder haben gewaltsame Konflikte erlebt. 80 Prozent seien traumatisiert. "Es kommen immer mehr so sehr schlimme Fälle ins Kinderdorf", sagt Ajjour. " Kinder, die einnässen, die aggressiv sind. Mit den missbrauchten Mädchen - sehr schwierig." Er erzählt vom Weg eines Mädchens, das vor sechs Jahren ins SOS-Dorf in Rafah kam. "Sie konnte keinerlei soziale Kontakte aufbauen, schlug uns nur. Sie hatte viel erlitten. Hunger." Er lässt den Blick über die Tische der Eisdiele schweifen. "Sie war sechs Jahre alt und hat seit Jahren auf der Straße gelebt. Kann man sich doch vorstellen, was sie durchgemacht hat - alles!" Heute sei sie ruhig und besonnen. "Und wie gut sie kommuniziert! Sie hat eine Kamera, fotografiert viel. Sie will Journalistin werden."
Andere Kinder, die noch eine Familie haben, bleiben bei ihren Eltern. 2000 werden inzwischen über das "Familienstärkungsprogramm" von SOS unterstützt. Mal mit Geld für die Schulwegkosten, eine Renovierung oder die Anschaffung eines Kühlschranks, mal durch die Begleitung zu medizinischen Diensten.Wenn die Kinder keinen Vater mehr haben, sind die Frauen das Familienoberhaupt. "Wir helfen ihnen, einen Beruf zu lernen oder ein Geschäft zu eröffnen, zum Beispiel einen Imbiss, wenn eine sehr gut kocht. Wir können nicht nur assistieren, sonst macht man die Menschen abhängig."
Ajjour spricht auf englisch über die Zukunft von Gazas Kindern. Wie seine Zukunft wohl ausgesehen hätte, wenn seine Eltern in Deutschland geblieben wären? Ob er gern hier leben würde? Er schüttelt langsam den Kopf. "Könnten alle gehen, dann wäre Gaza leer. Aber uns verlassen nur die Gebildeten." Vorm Eiscafé trödeln fränkische Schulkinder entlang. Ajjour blickt ihnen nach. "Ich würde nicht gehen und die Kinder dort leiden lassen."