Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt das Lebensgefühl der 80er-Jahre: Die Rückschau wirft auch ein neues Licht auf Themen, die heute brandaktuell sind.
Ganz oben in einem langgezogenen Backsteinbau der Fürther Südstadt wohnt einer der bedeutendsten Soziologen Deutschlands. Gerhard Schulze forschte und lehrte über 30 Jahre an der Uni Bamberg. Er hat den Begriff "Erlebnisgesellschaft" erfunden. Im Gespräch darüber wird deutlich, wie stark die 80er Jahre unsere Gegenwart geprägt haben. Sie haben 'mal gesagt: In den 80er Jahren reichte es nicht mehr, dass ein Auto fährt. Man will jetzt auch ein schönes Fahrgefühl haben. Und 1982 sang Markus: "Ich will Spaß". Was bedeutete das Auto damals?
Gerhard Schulze: Der Mensch will sich von anderen unterscheiden. In einer hierarchischen Dimension - sprich: Ich bin was Besseres als Du! Im bürgerlichen 19. Jahrhundert hatte man dafür einen repräsentativen Salon, wo die Möbel abgedeckt waren, bis Besuch kam. Im 20. Jahrhundert hatte man ein Auto. In der Nachkriegszeit ging es nur darum, eines zu besitzen, dann kam die Hinwendung zum Subjektiven. Der Blick des Menschen in sich selbst hinein ist etwas, das in den 50er und 60er Jahren keine dominante Rolle spielte, aber dann rückte die Befindlichkeit in den Vordergrund. Das Gefühl. Und so wurde beim Auto das Fahrgefühl wichtig.
Gibt es so etwas wie das Lebensgefühl dieser Zeit? Punks und Popper, No future und Konsum, Franz Josef Strauß und Joschka Fischer - dazwischen liegen Welten. Oder?
Das Gemeinsame zeigt sich, wenn man das Lebensgefühl im Zeitvergleich beurteilt. In den 80er Jahren war der Übergang von der Knappheitsgesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte zur Überflussgesellschaft weitgehend abgeschlossen. Es wurde zur alltäglichen Erfahrung, immer mehr Konsummöglichkeiten zu haben, immer mehr Waren, nicht nur um körperliche Bedürfnisse zu befriedigen. Es ging zunehmend um den Aspekt des Erlebens, und zwar möglichst mit Gleichgesinnten. Das ist heute noch extremer, weil das Internet für Gruppen von gleich denkenden und fühlenden Individuen unzählige Räume geschaffen hat. Die Untergruppen und Milieus sind mehr geworden, und sie unterscheiden sich nicht mehr nach materiellen Gesichtspunkten, sondern nach ihrer Gestimmtheit. Ich war gerade in Italien und habe dort im Fernsehen einen Werbespot für Joghurt gesehen: Fare l'amore con Müller. Sex haben mit Joghurt. Es geht darum, dass du Ekstase erlebst, nicht dass du dich satt isst. Die Leute sind unterwegs, um das Leben zu erleben ... das ist eine Herausforderung! Und es führt eine Entwicklung fort, die in den 80er Jahren begonnen hat.
Genuss als Lebensziel? In den 80ern gab's viel gesellschaftliches Engagement: Frauen-, Umwelt-, Friedens- und Anti-Atombewegung, heute Fridays for future ...
Bei diesen Bewegungen ist schwer zu sagen, ob einer sich beteiligt, weil er davon überzeugt ist oder weil er Teil von etwas sein möchte. Wir sind soziale Wesen und orientieren uns aneinander. Wenn jemand protestiert und 1000, 10 000, eine Million sagen das Gleiche, wird es zur Konvention. Geht es dabei vielleicht doch um das tolle Gefühl, gemeinsam gegen etwas zu sein? Bei allem, was so aufpoppt, muss man sich das fragen. Ablehnung ist ja auch eine Mode, nehmen Sie mal Bob Dylan: Er war eines der ersten Beispiele für die Konventionalisierung des Unkonventionellen.
Vom Protest zum Idol?