Eine verwaiste Mutter erzählt

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Sie bewahrt die Erinnerung an ihren Sohn, über Jahrzehnte hinweg. Eine Geschichte über die Liebe einer Mutter.

D ie Zahl sieben tut Magdalena Dotterweich gut, beruhigt sie. Wenn die Sieben vorkommt, ist es ein gutes Zeichen. Seit 1983 ist die Sieben Magdalena Dotterweichs Lieblingszahl, seit dem siebzehnten Tag des siebten Monats, dem Tag, an dem ihr Sohn Stefan, 17 Jahre alt, starb.
Es war 16 Uhr, der Wagen eines Freundes geriet auf die Gegenfahrbahn der B505 und bohrte sich in ein geparktes Auto. Ein Verwandter des Fahrers auf der Rückbank war sofort tot, der Mann am Steuer selbst überlebte. Stefan wurde mit einem Rettungshubschrauber in die Notaufnahme nach Erlangen gebracht.
Er und sein Freund waren auf dem Weg nach Bamberg gewesen, zum Sommerfest seiner Schule, des E.T.A.-Hoffmann-Gymnasiums. "Als er nicht Nachhause kam, dachten mein Mann und ich, Stefan sei schon auf dem Fest", erzählt Magdalena Dotterweich heute. Sie sitzt in einem Besprechungsraum der Bamberger AWO-Beratungsstelle und kämpft mit ihrer Stimme, "aber dort war er nicht". Das Telefon klingelte um Punkt 21 Uhr, "es geht um Ihren Sohn", sei der erste Satz des Beamten gewesen.
Worte wie ein Brandzeichen. Nach einer halben Stunde Ewigkeit auf der Straße stand Magdalena Dotterweich alleine in den einsamen Fluren der Erlanger Klinik. Ihr Mann wurde zu Stefan vorgelassen, sie als Mutter solle lieber warten, hätte der verantwortliche Arzt damals gesagt. Für einen Moment wird es still im Raum, Magdalena Dotterweich braucht eine kurze Pause. Die mit Mühe zurückgehaltenen Tränen drohen den Damm der Selbstbeherrschung zu sprengen.
Zitternd werden sie mit beiden Händen aus den glänzenden Augen gewischt. "Ich halte das aus", sagt die Mutter, die über ihren verlorenen Sohn erzählt, "wenn mir das zu viel wäre, wie hätte ich die vergangenen Jahre überstehen können?".
In Magdalena Dotterweichs Erinnerungen geht jetzt alles sehr schnell: Ehemann kehrt zurück aus der Notaufnahme. "Wir tun alles, was wir können", sagen die Ärzte. Heimfahrt nach Bamberg. Anruf: "Ihrem Sohn geht es schlecht." Zurück in die Klinik. Als die Mutter vom Arzt gebeten wird zu warten, lässt sie sich nicht zurückhalten. "Ich habe meinen Sohn geboren und jetzt, wo es ihm schlecht geht und er vielleicht stirbt, darf ich nicht zu ihm?", fragt sie. Im Raum der AWO bricht der Damm nun doch und die Trauer sammelt sich feucht und salzig um Magdalena Dotterweichs Wangen. "Da lag er, mein Stefan, mit seinen 1,90 Metern, bewusstlos, an Schläuche angeschlossen, und kämpfte um sein Leben. Und ich? Konnte nichts anderes tun, als dasitzen und seine Hand streicheln."
Es war bereits Morgen, als das Ehepaar den Weg nach Hause antrat. Die violette Färbung des Himmels kündigte den Sonnenaufgang an und Licht erhob sich über einer noch dunklen Welt, in der eine Mutter nach Bamberg fuhr und dachte: "Diese Sonne wird mein Sohn nie mehr sehen."
Heute, 33 Jahre später, legt sich Magdalena Dotterweichs Gesicht in lächelnde Fältchen, wenn sie von ihrem Stefan spricht, den sie noch immer an ihrer Seite spürt. Manchmal, wenn sie nachts schwer schlafen kann, besuche er sie in ihren Träumen und nehme sie in den Arm. "Das ist viel zu real, als dass ich es mir einbilden könnte", sagt sie und entfaltet den Inhalt einer blauen Pappmappe auf dem Tisch. Fotos, Texte, Zeichnungen, dokumentierte Erlebnisse anderer Väter und Mütter, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, ähnlich empfinden.


"Der Weg führt nur hindurch"

Magdalena Dotterweich hat sie alle durch die Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern kennengelernt, die sie selbst vor etwa 25 Jahren gemeinsam mit einer weiteren betroffenen Mutter in Bamberg gegründet hat. "Wissen Sie", sagt sie und wischt sich die letzten Tränen vom Gesicht, "spätestens nach zwei Jahren, können Sie niemandem mehr erzählen, dass Ihr Sohn tot ist, das will niemand mehr hören." Aber auch nach zwei Jahren lässt die Liebe einer Mutter zum verlorenen Kind nicht nach. Wie kann ich das überleben? Wieso hört der Schmerz nicht auf? Diese Fragen bleiben, oft acht, zehn oder 30 Jahre, manchmal ein Leben lang.
Diesen Fragen Raum geben, das sieht Magdalena Dotterweich als Aufgabe der Selbsthilfegruppe. "Am Anfang betäuben sich viele Eltern mit Medikamenten oder Alkohol. Das möchte ich nicht verurteilen, auf Dauer ist es aber wichtig, sich dem Schmerz zu stellen. Betäuben kann sich niemand für immer. Es führt kein Weg an der Trauer vorbei, wir kommen nicht um sie herum, der Weg führt nur hindurch." Doch dieser Pfad birgt auch Herausforderungen. "Ich hatte in der Trauer um meinen Sohn meine damals elf Jahre alte Tochter fast vergessen und nicht genügend wahrgenommen. Sie hatte ihren Bruder verloren und sorgte sich um ihre trauernden Eltern."
Auch die Freunde von Stefan, die nach seinem Tod oft zu Besuch bei den Eltern waren, erzählten von gemeinsamen Erlebnissen und davon, was für ein toller und zuverlässiger Kumpel Stefan gewesen sei. Ein freundlicher und hilfsbereiter Typ.
Die Tochter hörte das alles. Erst Jahre später erzählte sie der Mutter: "Als Stefan gestorben ist, dachte ich, vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre gestorben." Als Kind war sie davon überzeugt, dass ihr Bruder besser war als sie und ihre Eltern weniger hätten trauern müssen, wenn sie an seiner Statt gegangen wäre.
Inzwischen ist diese Tochter erwachsen und hat selbst einen Sohn und eine Tochter zur Welt gebracht. Magdalena Dotterweich hat in ihren Enkeln neues Glück gefunden und durch die Worte ihrer Tochter etwas gelernt, das sie nun weitergeben möchte: Vergesst eure Kinder nicht. Behaltet eure toten Kinder im Herzen, aber die lebenden im Blick.


HILFE FÜR VERWAISTE ELTERN:

Selbsthilfegruppe Eltern, die den Verlust ihres eigenen Kindes verarbeiten müssen, können sich an die Selbsthilfegruppe verwaister Eltern in Bamberg wenden. Die Gruppe trifft sich an jedem ersten Donnerstag im Monat um 19.30 Uhr im "Christine Denzler-Labisch Haus",
1. Stock, Lobenhofferstr. 10, 96049 Bamberg.

Kontakt Magdalena Dotterweich, ausgebildet in Trauerbegleitung,Telefon 0951/ 58340,
E-Mail: verwaiste-eltern.mdotterweich@web.de, und Sabine Kraus, ebenfalls ausgebildete Trauerbegleiterin, Telefon 0951/ 17607, E-Mail: verwaiste-eltern.skraus@hotmail.com