Ein Mann und eine Frau gehen sechs Jahrzehnte lang gemeinsam durchs Leben. Dann erkrankt der Mann unheilbar an Blutkrebs. Abschied am Kennenlern-Ort.
Angst überfällt, reißt zu Boden, fesselt, erdrückt. Angst jagt Schauer über den Rücken, pumpt Blut durch den Körper und durchspült ihn mit Adrenalin. Angst, die ist schnell. Ein Raubtier.
Noch ist Henriette Bachmann sicher vor ihr, geschützt durch die Hände ihres Mannes. Es sind seine Hände, die ihrer beider Geschichte erzählen. Hände, zerknittert von Falten und rissig wie dünnes Papier. Die Linke ist gezeichnet von einer Narbe. Sie durchbricht als blasse Linie die Furchen der Haut und zieht sich über den Knöchel des Zeigefingers bis auf den Handrücken. Vor 62 Jahren floss hier ein Blutopfer, geschuldet der Liebe.
Die Rechte war ausgerutscht, als sie mit dem Messer die Buchstaben A und H in einen Stein ritzen wollte, einen Kiesel am Ufer des Starnberger Sees. "A und H", Alfons und Henriette, hatten sich im Sommer 1954 dort kennengelernt. Vier Jahre später machte er ihr an derselben Stelle einen Antrag.
Sommer 2016. Gemeinsam kehrt das Paar für einen Ausflug an den See zurück. Es ist der letzte Sommer von Alfons und Henriette. Alfons Bachmann hat Blutkrebs und höchstens noch bis zum Frühjahr 2017 zu leben, so sagen es seine Ärzte. In der Zeit, wenn die Krokusse erblühen, wird das "und" der beiden verwelken und Henriette Bachmann im Winter ihrer Welt zurückbleiben. In einem Winter ohne Alfons' wärmende Hände.
Aber noch ist diese Kälte Zukunft, noch glüht die Sonne auf der Haut. Alfons und Henriette Bachmann sitzen auf einer Holzbank am Starnberger See und haben die Augen geschlossen. Das Wasser reflektiert das Licht der Sonnenstrahlen, die Seeoberfläche brennt in Weiß. Wellen zerfließen sanft am Ufer, ihr Rauschen vermischt sich mit dem der Blätter, die flatternd an den Bäumen tanzen.
Seit 60 Jahren sind die Bachmanns zusammen
Henriette Bachmann saugt jeden dieser Eindrücke in sich auf, will jedes Detail einbrennen in ihr Gedächtnis. "Ich will, dass du für mich wieder hierher kommst", sagt Alfons. Henriette fängt an zu zittern. "Wieso?", fragt sie. "All diese Geräusche hier. Wenn du mal an mich denkst, will ich dich nicht in einer Kirche haben. Dann sollst du raus", antwortet er. "Ich will, dass du das Konzert der Natur genießt." Henriette Bachmann weint. Der Starnberger See ohne ihren Alfons? Das wäre eine Symphonie in einer Welt ohne Klang.
Seit mehr als 60 Jahren sind die beiden ein Paar, fast genauso lange verheiratet. Gemeinsam zogen sie vor Jahren aus der Region um München nach Oberfranken, der Arbeitsbedingungen wegen. Alfons verdiente als Feinwerkzeugmechaniker sein Geld, Henriette als Sekretärin. Beide bekamen einen geringeren Lohn als in München, hatten in Oberfranken nach Abzug aller laufenden Kosten aber mehr zum Leben übrig. Und beide wollten leben.
Sie wollten die Fesseln sprengen, die Geldnot mit sich bringt. Stattdessen genießen, die Welt sehen. Sie bereisten Thailand, die Fidschi-Inseln, Osteuropa und Amerika, gemeinsam waren sie in 27 verschiedenen Ländern unterwegs. Regelmäßig kehrten sie auch an den Starnberger See zurück. Urlaubsort der Kindheit, Ursprungsort ihrer Liebe.
Henriette Bachmann dreht sich nach links, legt den Kopf auf die Schulter ihres Mannes. "Können wir nicht einfach hier bleiben und wieder jung sein?", fragt sie. Er lächelt. Seine linke Hand streicht durch ihr graues Haar. "Manchmal", sagt Alfons Bachmann, "sehe ich wieder die Träumerin von damals. Ich habe dich geliebt." Als seine Frau schweigt, schiebt er nach: "Du warst wunderschön." Seine Frau hebt den Kopf und sieht ihn an. "Und heute?", fragt sie. Er lächelt wieder. "Nur umso mehr."
Beide erheben sich von der Bank, der Kies knirscht mit jedem Schritt. Hand in Hand spazieren sie am Ufer entlang und erzählen sich Geschichten von früher. Als sie betrunken bei Mondlicht im Meer vor Cuba schwimmen gingen oder in Thailand verhaftet wurden, als Alfons auf einige Gestalten deutete, die bunt bekleidet waren wie Pfaue. Es war die Thailändische Königsfamilie.
Sie erinnern sich daran, wie sie in Ägypten mit Delphinen schwammen, in den USA die Niagarafälle besuchten. Sie denken daran, wie sie in Tansania auf einem Jeep durch die Savanne der Serengeti preschten und wie sie in Kroatien eine Woche lang in einer Hütte von Waldarbeitern verbrachten, die am Tag mehr Sliwowitz tranken, als andere Menschen Wasser. Sie spüren noch einmal ihren ersten Kuss am Starnberger See.
Sie kommen vorbei an dem Kreuz, das die Stelle markiert, an der König Ludwig gefunden wurde, an Häusern mit Privatzugang zum Wasser und Tunneln unter dem Fußgängerweg hindurch zum Ufer. Viel hat sich verändert im Laufe der Jahre. "Nur wir sind gleich geblieben", sagt Henriette. "Ja", antwortet Alfons, "dieselben störrischen Böcke wie früher schon." Beide lachen.
Bald haben sie die Häuser der Reichen hinter sich gelassen, sind wieder angekommen am Ufer, und setzen sich auf eine Holzbank. "Ganz wie früher sind wir wohl doch nicht mehr", sagt Henriette Bachmann. Ihr Mann nickt. "Da hätten wir noch lange keine Pause gebraucht." Eine halbe Stunde lang sitzen sie nur da, schweigen und schauen auf die Weite des Sees, hinüber zu den Alpen.
Dann geht es weiter, Kiesel knirschen, eine Brise weht den Geruch von Fett und Fleisch der Grillfeuer hin zum Wanderweg am Ufer. "Früher", sagt Henriette, "da saßen wir auch noch jeden Samstag hier am Ufer und haben gegrillt." Alfons sieht zu einem der Feuer und nickt. "Das war schön", sagt er. Ein Schluchzen schneidet in die Harmonie des Augenblicks. Henriette hält sich beide Hände vors Gesicht, ihr Körper zittert. Sie weint.
Das ist die welke Seite der Schönheit, sie vergeht und lässt nur ein Abbild dessen zurück, was war. Eine Erinnerung, nicht mehr. Nostalgie reißt am Heute, schleudert zurück ins Damals, überwältigt das Jetzt mit der Macht des Vergangenen. Alfons Bachmanns Hände legen sich auf die Schultern seiner Henriette, ziehen sie an ihn, streicheln über ihren Rücken, spenden Trost. Obwohl die Jahre sich wie Furchen in diese Hände gegraben haben, sind sie noch immer stark und schenken Henriette Bachmann Halt, genau wie früher, als sie ihr ganzes Leben in diese Hände legte. Bis dass der Tod euch scheidet.
"Ja, es war schön", Henriette Bachmann weint die Worte in die Schulter ihres Mannes. "War - das ist es doch, das ist doch das Schlimme." Gemeinsam bereisten die Bachmanns Cuba, die USA und Fidschi, gemeinsam lauschten sie den Geräuschen am Ufer des Starnberger Sees, gemeinsam beobachteten sie ihr erstes Alpenglühen, gemeinsam sahen sie jeden Abend die Nachrichten an, gemeinsam schliefen sie nachts ein, teilten ihr Leben, über ein halbes Jahrhundert voller Schönheit. Bald nur noch Erinnerung.
Alfons Bachmann schweigt, drückt seine Frau an sich, ist da. Nach einigen Minuten fängt er wieder an, ihr über den Rücken zu streicheln. "Du siehst das falsch", sagt er, "ich werde dich nicht alleine lassen. Ich werde noch da sein, nur eben nicht mehr so wie jetzt."
In den Klängen des Naturkonzerts um den Starnberger See, in den Farben des Sonnenuntergangs, im Glück eines jeden Moments wird Alfons Bachmann bei seiner Frau sein, anwesend, nur auf andere Weise. Er glaubt fest daran. Als Mechaniker sieht er vieles aus der Perspektive der Physik, und die lehrt, dass Energie niemals vergeht, nur umgewandelt wird. Und was ist Leben anderes als Energie?
Nachtrag der Redaktion: Alfons Bachmann starb in der ersten Januarwoche 2017, zwei Tage nach dem 63. Jahrestag seiner Beziehung mit Henriette Bachmann.
H. Stark: ein wunderbarer, einfühlsamer Artikel, der mich sehr berührt hat. Eine Lebensgeschichte, malerisch von Ihnen eingebettet in Sätze, die ans Herz gehen. Bis zum traurigen, leider vorhersehbaren Ende. Man konnte förmlich die Situation vor seinem inneren Auge sehen.
Ein großes Kompliment an Ihre journalistischen Fähigkeiten, die Sie vor allem mit dem notwendigen Respekt an das Ehepaar unter Beweis gestellt haben.
Alfons Bachmann sagte:
"Ich will, dass du für mich wieder hierher kommst",... "All diese Geräusche hier. Wenn du mal an mich denkst, will ich dich nicht in einer Kirche haben. Dann sollst du raus", ...."Ich will, dass du das Konzert der Natur genießt."
Ja, Gott ist nicht in einer Kirche zu finden, sondern Gott ist "überall".
In der Bibel sind die Worte zu finden:
"Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind",
...denn...
"Gott ist Geist, und die anbeten,
müssen ihn im Geist und in Wahrheit anbeten".
Es ist ein Trost zu wissen, dass es ein Wiedersehen geben wird, mit Menschen die wir liebten.
Der Arzt Dr. med. Carl Ludwig Schleich - Arzt (1859-1922) schrieb einmal:
"Ohne ein Leben, nach dem Sterben, bleibt dieses Leben ein phantastisches Chaos.
Die Erde, eine unbegreifliches Riesengrab und unser Geborensein ein Verbrechen,
auf welches die Todesstrafe gesetzt ist.
Verstanden kann das Leben nur werden im Lichte der Ewigkeit."
Vielleicht können die nachfolgenden Videos Frau Bachmann und anderen trauernden Menschen trösten und helfen und den Tod vielleicht in einem anderen Licht zu sehen.
https://www.youtube.com/playlist?list=PL1A521E1A2E38BB81
https://www.youtube.com/playlist?list=PLEF0323FCB10996F1
https://www.youtube.com/playlist?list=PL1354F1732DCC8491
https://www.youtube.com/playlist?list=PLAE6B179A2024F7F4
Uns hat der christliche Glaube im Leid und Trauer geholfen. Aber Trost und Hilfe haben wir von unserer ev. Kirche nicht bekommen.
Uns trösten die Worte von Jesus der sagte:
"Gottes Reich ist mitten unter euch"
..und...:
"Ich lebe und ihr sollt auch leben"
...und Paulus schrieb,
"dass wir nicht sterben, sondern verwandelt werden",
...und...
"dass wir nicht auf das Sichtbare sehen sollten, das zeitlich ist,
sondern auf das Unsichtbare, das Ewig lebt."
Leider, selbsternannter "Christ", Sie können das Kirchenbashing auch unter einem so eindrucksvollen Beitrag über die grenzenlose Liebe zweier Menschen nicht lassen. Und wieder strafen Sie sich selbst Lügen, indem Sie behaupten : "Ja, Gott ist nicht in einer Kirche zu finden, sondern Gott ist "überall". -- Merken Sie den Widerspruch? Richtig, Gott ist überall zu finden, aber somit auch oder erst recht in einer Kirche. Jesus selbst hat seinen ihn suchenden Eltern gesagt: "Wusstet ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss?, als sie ihn in der Synagoge gefunden hatten. Und er hat die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel zu Jerusalem vertrieben, weil sie ihn entheiligt hatten.
Wenn "Christ" weiter darauf hinweist, dass In der Bibel die Worte zu finden sind: "Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind", dann verschweigt er, dass diese Worte vom Völkerapostel Paulus stammen, die er vor der Kulisse des Parthenons einer Gruppe von Athenern sagte.
Ich bedauere sehr, dass die Redaktion von infranken.de dem User "Christ" wieder einmal die Gelegenheit gegeben hat, seine scheinbar alleinseligmachende Sicht auf die letzten Dinge mit seinen persönlichen Rachegefühlen gegen die ev. Kirche zu verknüpfen und dies im Stile des Bessserwissers zu verbreiten.
Der Herr lasse Alfons Bachmann ruhen im Frieden.
Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal:
"Es gibt nichts, was die Abwesenheit eines geliebten Menschen ersetzen kann.
Je schöner und voller die Erinnerung, desto härter die Trennung.
Aber die Dankbarkeit schenkt in der Trauer eine stille Freude.
Man trägt das vergangene Schöne, wie ein kostbares Geschenk in sich."
Wir haben nach dem schlimmen Tod unserer Tochter, ein Heft in ihrem Kinderzimmer gefunden, in dem die Worte zu lesen waren:
"Wer weiß denn, ob nicht sterben Leben heißt,
und das, was wir Leben nennen, nur ein Sterben ist."