Komplett gelähmt
Sechs Wochen lag der 18-Jährige im künstlichen Koma, als er zu sich kam, wusste die Familie bereits: Es wird keine Veränderung geben. Jonas wird komplett gelähmt bleiben. Er wird keinen Schritt gehen können, seine Hände nicht bewegen, sich nicht aufrichten können, sich weder Zähne putzen noch alleine essen können.
Das Wichtigste: Wie kommunizieren wir mit unserem Sohn, wie kommuniziert die zwei Jahre ältere Franziska mit ihrem geliebten Bruder? Durch einen Logopäden stießen sie auf die Buchstabentafel. Da Jonas zwinkern kann, "reden" die Theins so miteinander.
Heike Thein gab ihren Job auf, ihr Fulltime-Job heißt jetzt Jonas. Das bedeutet: Wenn Jonas nicht mehr abhusten kann, steht sie manchmal im Wechsel mit ihrem Mann alle halbe Stunde in der Nacht auf, um die Lunge vom Schleim zu befreien. Mehr als drei Stunden am Stück schläft sie kaum. Während der Vater Geld verdient, liest sie vor, schaltet YouTube-Videos von neuesten Traktoren an ("er liebt sie!") oder setzt ihn in den Rollstuhl und fährt ihn stundenlang spazieren. Höhepunkte: Wenn Jonas Traktorenausstellungen besuchen kann.
Jonas ist geistig topfit
Jonas ist geistig hellwach. Ein bisschen Mimik konnten Physiotherapeuten antrainieren und wer mit ihm über die Tafel kommuniziert, bemerkt sofort, dass der jetzt 24-Jährige jede neue Information einsaugt. Die schönen, großen Augen mit außerordentlich langen Wimpern heften sich wie ein Magnet an den Gesprächspartner, seine Art zu lachen ist unübersehbar. "Ich kann es oft selbst nicht glauben, aber Jonas hat noch nicht ein einziges Mal geklagt. Nie. Er nimmt es an." Vielleicht macht ihm das Verhalten seiner Mutter Mut. Auch wenn sie, wie sie sagt, "manchmal ins Kissen heulen könnte - es ist, wie es ist." So hat sie ihn auch die fünf Wochen im Thorax-Zentrum begleitet. Von 9 bis 18 Uhr saß sie am Bett in der Intensivstation, unterstützte die Schwestern, war für ihren Buben da.
Einzige Ablenkung im Alltag: Ihre Patchwork-Arbeiten am Abend, oder wenn die Therapeuten mit Jonas arbeiten. "Da nehme ich mir dann meine Auszeiten, das beruhigt mich." Aber, vielleicht, räumt sie ein, "schafft so etwas auch nur eine Mutter, das würde jeder für sein Kind machen".
Einmal habe Jonas buchstabiert: "Es wird fünf Jahre dauern." Er ist jetzt im sechsten Jahr und er weiß das. "Jeden Tag muss ich ihm sagen, welches Datum wir haben. Das nicht zu wissen hat ihn im Krankenhaus, als er nach dem Koma erwacht ist, bald verrückt gemacht." Das war die Zeit vor der Buchstabentafel, als noch keiner wusste, wie weit sein Gehirn geschädigt sein würde.
Abends zusammen mit der Familie
Das Haus in Uchenhofen ist umgebaut, Jonas hat nun das größte Zimmer, nicht nur er braucht das: Dort steht das überdimensionale Pflegebett, dort kommt abends die Familie zusammen, um gemeinsam fernzusehen oder zu reden. In das Zimmer kann Heike Thein auch blicken, wenn sie an der Nähmaschine sitzt und Stoffstück für Stoffstück zu kunterbunten Decken oder Taschen zusammennäht. Trotz aller Strapazen und Sorgen sieht Heike Thein, 52, zehn Jahre jünger aus. Aus ihren Augen spricht Sanftmut, in ihren Lippen liegt Gefühl, sie lächelt viel.
Wünsche, sagt sie, hat sie keine. "Ich habe ja nur einen - und der wird mir nicht erfüllt." Sie hat eben nur ein Anliegen: "Pocht auf Gründlichkeit, wenn ihr das Gefühl habt, mit eurem Kind stimmt etwas nicht." Wenn sie über das Team im Thorax-Zentrum spricht, glänzen ihre Augen. "Unglaublich, was dort geleistet wird - nicht nur medizinisch, sondern auch menschlich." Dann muss sie kurz die Intensivstation verlassen, ein neuer Notfall wird eingeliefert. Nach einer Stunde sitzt sie wieder dort, wo ihr Leben ist: neben ihrem Sohn.
Info: Das ist ein Aneurysma
Aneurysmen kommen häufig an Arterien vor. Sie bilden sich an Schwachstellen der Gefäßwand, die sich sackartig ausstülpt. Sie können im ganzen Körper vorkommen, wobei eine Gefäßerweiterung der Bauchaorta am wahrscheinlichsten ist. Prominentes Opfer eines Aneurysmas ist die Sportjournalistin Monica Lierhaus. 2009 unterzog sie sich einer Hirnoperation, ein Aneurysma sollte entfernt werden. Doch die Ader platzte während des Eingriffs, sie fiel monatelang ins Koma. Sie musste alle Fähigkeiten wie Gehen, Sprechen oder Essen neu erlernen.
Das Dorf hilft mit:
Viele Menschen nehmen Anteil an Jonas Schicksal, viele helfen, wie hier zu sehen ist. Eine ebenfalls rührende Geschichte hat sich vor wenigen Monaten abgespielt: Nach 27 Jahren wachte eine Frau plötzlich aus dem Koma auf - und rief als erstes nach ihrem Sohn.