Ein Kurgast erzählt von einer Reise, die er als Junge direkt nach Kriegsende unternahm. Der Weg führt ihn von Miltenberg bis nach Bad Kissingen und wieder zurück. Seine Stiefel trägt er nur selten. Sie sind zu wertvoll.
"Was? Bist Du verrückt?", fragt eine Oma ihren Enkel. Der hat sich gerade die Stiefel geschnürt und will losmarschieren - von Neuendorf (Main-Spessart) nach Bad Kissingen. Der Junge lässt sich zuvor auch durch den Protest seiner Mutter nicht von seinem Vorhaben abbringen. Schließlich möchte er den Spessart, die Rhön und Bad Kissingen kennenlernen.
Der Name des Jungen ist Edgar Zeller. Damals war er zwölf Jahre alt. Exakt 70 Jahre später ist er als Kurgast nach Bad Kissingen zurückgekehrt und erzählt von einer ungewöhnlichen Wanderung. Ausgangspunkt der Reise ist sein Geburtsort Miltenberg. Von dort fährt er mit der Spessart-Bahn nach Heimbuchenthal. Dann geht es zu Fuß weiter. Zunächst nach Neuendorf zur besagten Großmutter.
Unbekümmert drauf los Es ist Juli 1945, kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Auf seinem Weg sieht der zwölfjährige Junge vielerorts das Ausmaß der Zerstörung. Doch er möchte die Landschaft erkunden. Die meiste Zeit läuft er barfuß. "Wir sind sparsam erzogen worden", erzählt Edgar Zeller. Mit "wir" meint er alle Kinder, die während des Krieges aufgewachsen sind. Blasen bekommt er keine. Denn auch zuvor hat er seine Stiefel nur selten getragen, erzählt Edgar Zeller.
Außer einem Rucksack, einer Decke, einer Wasserflasche und ein bisschen Geld führt der Junge nichts weiter mit sich. Er reist mit leichtem Gepäck und vertraut rein auf die Güte seiner Mitmenschen. Er übernachtet meistens auf Stroh gebettet in den Scheunen der Bauern. Manchmal sogar in einem Bett. "Es hat mir Spaß gemacht, auch die Leute kennenzulernen", sagt der Miltenberger. Abgewiesen wird er nur selten. Und wenn, dann bekommt er einen Tipp, wo es vielleicht doch eine Übernachtungsmöglichkeit bei einem anderen Bauern gibt.
Zu Essen gibt es meistens ein Butterbrot, einen Apfel oder mal ein Ei, erinnert er sich. "Ich hatte blindes Vertrauen zu den Leuten", sagt Zeller. Er glaubt, dass man diese Art Zuneigung und Menschlichkeit heutzutage nicht mehr antreffen würde. Die Gemeinschaft und der Zusammenhalt seien damals einfach anders gewesen.
Die Reiseroute Sein Weg führte den Zwölfjährigen von Neuendorf über Gemünden, Hammelburg und Elfershausen nach Bad Kissingen (siehe Karte). Einfach immer der Saale und der Nase entlang. "Im Prinzip hat sich von der Gestaltung nicht viel verändert", sagt Edgar Zeller zum Erscheinungsbild von Bad Kissingen. Er räumt jedoch ein, dass er die Stadt damals eben mit Kinderaugen gesehen habe.
Zum Beispiel die Wandelhalle, wo er einen großen Schluck aus dem Rakoczy-Brunnen nahm. In die Halle gelangte er allerdings nur mit ein wenig Glück. Denn Regentenbau und Wandelhalle wurden von amerikanischen Soldaten bewacht. Einer von ihnen ließ den Jungen gewähren. "Das war für mich imposant", erzählt Zeller, "ich durfte dort laufen, wo einst die hohen Herren waren."
Eine große Veränderung sieht Zeller aber doch: Der Bahnhof. Früher soll hier mehr los gewesen sein. Heute sei der Bahnhof "eine Haltestelle ohne Persönlichkeit und Leben".
Kontakt nach Hause Von Bad Kissingen aus ging es nach Nüdlingen, Münnerstadt und über Bad Neustadt nach Bischofsheim. Es folgte eine Einkehr auf dem Kreuzberg, welchen er neben Bad Kissingen als einen der zwei schönsten Orte seiner Tour in Erinnerung behält. Danach geht es über Bad Brückenau und Burgsinn gen Heimat. Ab und zu schickte der Junge seinen Verwandten eine Postkarte. Wo es möglich war, gab er per Telefon ein Lebenszeichen von sich. "Sie sollten wissen, dass es mir gut geht", sagt Zeller. Trotzdem waren sie letztlich froh, als er wieder zu Hause war.