Sie war jedoch von klein auf ein weltoffener, neugieriger Mensch, den es nicht im ländlichen Bayern gehalten hat. Andere Kulturen, die Anonymität von Großstädten - das reizt sie bis heute. "Für mich war klar, dass ich etwas mit Sprachen machen und unabhängig sein wollte", sagt sie. Nach der Ausbildung begann sie als Fremdsprachenkorrespondentin beim Auswärtigen Amt in Bonn - und landete im Protokoll. Das heißt, sie wurde bei der Organisation von Staatsbesuchen eingesetzt. Vaessen half beispielsweise, den Besuch von Queen Elizabeth 1992 in Deutschland vorzubereiten. Ein Jahr später reiste sie mit 22 Jahren als Teil einer Delegation von Bundeskanzler Helmut Kohl durch Asien.
Nächte im Schutzraum bis Evakuierung
Eine Arbeitsstelle wie die jetzige in den USA ist im Auswärtigen Dienst nicht selbstverständlich. Vaessen war in ihrer Karriere auch in Kriegsgebieten im Einsatz. Das erste prägende und lebensgefährliche Abenteuer begann 1997, als sie auf eine Stelle in der Deutschen Botschaft in Bujumbura in Burundi (Ostafrika) kam. Gegen das Land war damals ein internationales Embargo verhängt, es gab noch kein Internet und keinen regulären Flugverkehr. "Es war nicht einfach den Umzug dorthin zu organisieren", erinnert sich Vaessen. Angst davor, in eine von Völkermord, Krieg und Gewalt gebeutelte Krisenregion zu kommen, hatte sie jedoch nicht. Sie sei damals recht naiv und abenteuerlustig gewesen.
Die junge Frau erlebte jedoch mit, wie der Bürgerkrieg immer schlimmer wurde, wie sich Bujumbura nach und nach zum Kriegsschauplatz verwandelte. Ausgangssperren waren an der Tagesordnung, sich frei in der Stadt zu Bewegen war am Ende unmöglich. "Ich habe manche Nacht unterm Bett oder im Sicherheitsraum miterlebt." Wenn sie mit ihrer Mutter in Oberthulba telefonierte, versuchte sie diese stets zu beschwichtigen: Nein Mama, da sind keine Explosionen.Aber das stimmte nicht: "Der Tod war am Ende ganz nah dran." Vaessen vertrat Deutschland auf den lokalen UN-Krisensitzungen, 1999 wurde die Botschaft dann geschlossen und die Mitarbeiter evakuiert.
Zeit für Familienglück
Als Ausgleich für die überstandenen Strapazen versetzte das Auswärtige Amt Vaessen an ein ruhigeres Pflaster: Sie kam an das Generalkonsulat nach Vancouver in Kanada. Sie genoss die Freiheit nach dem Bürgerkrieg und lernte dort ihren Mann kennen, kein Kanadier, sondern ebenfalls ein Deutscher. Sie blieb nicht die vollen vier Jahre in Kanada, sondern kehrte vorher nach Deutschland zurück, um noch einmal die Schulbank zu drücken und ein Verwaltungsstudium für den Auswärtigen Dienst zu absolvieren.
Von dort ging es 2005 an die Botschaft nach Tallinn weiter. Aus Sicht der Familie erwies sich die Zeit in Estland als Glücksfall. Vaessen war häufig zu Besuch bei ihren Eltern, bekam in dieser Zeit ihre beiden Kinder, die jeweils im ersten Lebensjahr auch einige Monate in Oberthulba aufwuchsen und dort den Kindergarten besuchten. "Meine Mutter hat es immer bedauert, dass ich weggezogen bin. Das war eine sehr schöne Zeit für meine Eltern und meine Kinder", erzählt sie. Noch heute verbinden ihre Kinder den Gedanken an Deutschland vor allem mit Oberthulba, viel mehr haben sie von Deutschland bislang noch nicht kennengelernt. "Oberthulba ist die Basis."
2010 stand der erste Umzug als Familie an, als Kerstin Vaessen an die Deutsche Botschaft nach Amman in Jordanien (Arabische Halbinsel) versetzt wurde. Ein neues Land mit neuer Sprache, neue Schulen für die Kinder, dazu eine neue Stelle. "Ein Umzug ist immer eine doppelte Herausforderung", sagt sie. Ein halbes Jahr ist für die Umzugsvor- und nachbereitung nötig. Aber es lohnte sich: Jordanien ist ein Mekka für Archäologen, entsprechend begleitete die Botschaft viele Grabungsprojekte.
Terror erreicht Familie in Ouagadougou
Vier Jahre später ging es nach Burkina Faso weiter. "Damals war das noch eine friedliche Oase in Westafrika, aber wir sind in eine unruhige Zeit gekommen", erzählt die Oberthulbaerin. Sie wurde als Sachbearbeiterin für wirtschaftliche Zusammenarbeit in die Hauptstadt Ouagadougou beordert. Dort stieg sie nach zwei Jahren zur Verwaltungsleiterin und stellvertretenden Botschafterin auf.
2014 kam es zunächst zu einem Militärputsch, in den Jahren danach überzogen islamistische Terrorgruppen das Land mit Gewalt, plünderten Dörfer, attackierten Schulen. Vaessen sagt: "Wir mussten beobachten, wie immer mehr Landesteile zu No-Go-Zonen erklärt wurden. Letztlich gewöhnt man sich an vieles, aber es wurde nicht besser." Ausländer, gleich ob Franzosen, Amerikaner, Briten oder Deutsche, führten in der Hauptstadt noch ein vergleichsweise sicheres Leben. Deshalb sei sie auch mit der Familie in dem Land geblieben.
Aber auch in Ouagadougou wurde es gefährlicher. Höhepunkt war ein Terrorangriff auf die französische Botschaft mit 90 Verletzten und mehreren Toten im März 2018. Die Lage war extrem unübersichtlich, Vaessen hatte in Vertretung des Botschafters das Krisenmanagement für die Deutschen zu koordinieren. Das hieß: Die eigenen Leute in Sicherheit bringen und abtauchen, bis die unmittelbare Gefahr überstanden war. "Für die Kinder war die Situation dramatisch. Sie konnten schließlich aus der Schule abgeholt und - wenn auch teilweise ohne ihre Eltern - an sichere Orte gebracht werden." Deutsche wurden bei dem Anschlag keine getötet oder verletzt.Trotz der Vorkommnisse blieb Vaessen die restlichen Monate bis zur Versetzung nach Houston in Burkina Faso.
Die Erfahrungen in den Krisengebieten in Afrika haben sie psychisch widerstandsfähiger werden lassen, sagt sie. Den Job beim Auswärtigen Amt finde sie trotz allem toll, weil er so vielseitig ist. An dem Umgang mit Krisen ist sie gewachsen. "Was ich aus den Krisen gelernt habe: Es ist niemandem gedient, wenn ich in Panik verfalle. Wenn ich realistisch einschätze, dass ich nichts machen kann, muss ich sehen, dass ich an eine Stelle komme, an der ich etwas bewegen kann." Das gelte für eigentlich alle schwierigen Situationen im Leben.
Der Kontakt zu Eltern und zur Heimat
"Solange meine Mutter gelebt hat, war ich immer sehr gut über die Heimat informiert", sagt Vaessen. Ihre Mutter hob ihr wichtige Artikel aus der Saale-Zeitung bis zum nächsten Besuch zum Durchlesen auf, oder schickte ihr die Ausschnitte zu. "Für meine Mutter war es wichtig, dass sie mit mir über solche Dinge reden konnte." Ist sie auf Heimatbesuch in Oberthulba , genießt sie es, zu ihrem Friseur von früher und in Bad Kissingen in vertrauten Läden einkaufen zu gehen. "Auch nach 18 Jahren im Ausland hänge ich noch an vielen deutschen Produkten", meint sie und lacht.
Heimatbesuche könnten in Zukunft wieder öfter anfallen, denn als nächste Station ist Deutschland im Gespräch. Auch, weil die im Ausland aufgewachsenen Kinder dann in Deutschland studieren könnten. Auf lange Sicht würde sich Vaessen gern nach Kapstadt (Südafrika) versetzen lassen. "In den afrikanischen Ländern, in denen ich bisher war, war Reisen leider kaum möglich", erklärt sie. Die Konflikte würde sie das nächste Mal lieber gegen eine Safari eintauschen.