Im Laufe der Zeit kletterten die Grabflächen bis nach oben. Die letzte offizielle Bestattung fand in den Achtzigern statt, es gibt jedoch Urnengräber von 1988 und 2000. "Man weiß bis heute nicht, wie sie auf den Friedhof kamen. Der Steinmetz weiß laut seiner Aussage von nichts", sagt das Ehepaar.
Rechteckiger Friedhof in Bad Kissingen
Eingefasst ist die Friedhofsfläche von einer ehemals viereckigen Mauer. Warum ehemals? Itzchak Nadel erzählt: Felix Ehrlich, der ein gut laufendes Geschäft in der Kissinger Innenstadt betrieb, erkrankte nach dem Tod seines Sohnes im ersten Weltkrieg an Depressionen. Infolgedessen beging er Selbstmord, sein Leichnam wurde eingeäschert. Doch weder das eine noch das andere sind im Judentum erlaubt. Rabbiner Seckel Bamberger, zu dem Felix Ehrlich zu Lebzeiten auch keine gute Beziehung gehabt hatte, verbot deshalb die Beerdigung auf dem Friedhofsgelände. Die Ehrlichs jedoch erwarben ein Grundstück auf der anderen Seite der Friedhofsmauer, auf dem er schließlich beigesetzt wurde. Einige Jahre später ließen die Nazis die Mauer an der Stelle einreißen und gliederten das Grab mit ein, damit es nur einen Friedhof gab. Die daraufhin neu entstandene Mauer führt um die Grabstätte herum.
Als Bad Kissingen im bayrisch-preußischen Krieg 1866 zum Kampfplatz wurde, fielen auch jüdische Soldaten. Zwei, ein Bayer und ein Preuße, liegen nebeneinander begraben. Jacob Michaelis, ein preußischer Leutnant, war so angesehen in der Truppe, dass die Soldaten ihm ein Ehrengrab stifteten. Durch den daneben wachsenden Baum werde der Grabstein jedoch immer weiter hochgehoben, weshalb dessen Stand unsicherer werde, beklagt Raaya Nadel.
Alle Steine haben eine Geschichte
Der jüdische Friedhof hat außerdem eine "Kinderabteilung", wo kleine Grabsteine für im Kindesalter Verstorbene stehen. Eine abgebrochene Säule oder Baum symbolisieren, dass die dort begrabene Person zu früh aus dem Leben gerissen wurde.
Eine Ausnahme gibt es: Das Ehepaar zeigt das Grab eines elfjährigen Mädchens, das bei den Erwachsenen steht. Die sterblichen Überreste ihrer Mutter, ursprünglich aus Hamburg, wurden später auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin auch auf den Friedhof überführt, nachdem sie in Toulouse überfahren wurde. Da in der Zwischenzeit die Plätze neben dem Grab der Tochter jedoch vergeben waren, liegt das Grab der Mutter entfernt davon am Fuße des Hanges. "Jüdische Mütter", meinen Itzchak und Raaya Nadel und lachen. Es gibt auch eine eigene Sektion von jüdischen Kurgästen, die während ihres Aufenthalts in Bad Kissingen verstarben. Die Grabsteine von diesen sind aus schwarzem Stein im Gegensatz zum sonst genutzten Sandstein.
Einen solchen hat auch Moritz Goldstein, gestorben 1959. Er kaufte ein Doppel-Grab für sich und seine Frau, eine zum Judentum konvertierte Polin. Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie in einem jüdischen Pflegeheim in Würzburg. Ihre Familie missbilligte dies: Bei einem Besuch lockten sie die Frau unter einem Vorwand in ein Auto und entführten sie zurück nach Polen. Mehr sei über ihr Schicksal nicht bekannt, sagt Itzchak Nadel.
"Die Steine reden", fasst er zusammen. Und seine Frau Raaya ergänzt: "Jeder Stein erzählt eine Geschichte." Das Befestigen der Grabsteine sei jedoch eine kostspielige Angelegenheit. Das Ehepaar hat bereits bei anderen Friedhöfen unter anderem Edelstahlplatten mit den Grabinschriften angebracht, wo die Restauration der Steine nicht erlaubt war. Das sei jedoch ein großer persönlicher Aufwand gewesen.
Wie es weitergeht mit dem jüdischen Friedhof in Bad Kissingen, ist noch unklar. Ob die Stadt nun am Leader-Projekt "Jüdische Friedhöfe" teilnehmen wird, bei dem diese Fördergelder bekommen sollen (wir berichteten), ist noch ungewiss.