"Die FDP hat soeben den Verhandlungstisch verlassen..." postete Dorothee Bär um 23.50 Uhr, seitdem herrscht Rätselraten in Berlin.
"Schlaf wird sowas von überschätzt" kommentierte Dorothee Bär (CSU) die Jamaika-Verhandlungen. In ihrem Post am Freitag war sie allerdings noch optimistisch: "Wir arbeiten zielorientiert und hochseriös weiter." Kurz vor Mitternacht stand dann das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen fest. Geschlafen haben im politischen Berlin deshalb alle wenig.
Für Dorothee Bär ist das besonders hart, weil sie seit Tagen eine Erkältung mit sich herum schleppt. "Keiner weiß, wie es weitergeht", flüstert sie am Montagmittag mit rauer Stimme und trotz Sprech-Verbots der Ärztin ins Telefon. Nach 15 Jahren im Bundestag hat die Parlamentarische Staatssekretärin schon einiges mitgemacht, aber: "So was habe ich noch nie erlebt, und auch ältere Kollegen sagen, dass das eine der schwierigsten Situationen in der Geschichte der Bundesrepublik sei."
Dorothee Bär, die den Wahlkreis Bad Kissingen im Bundestag vertritt, sitzt seit Tagen mit am Verhandlungstisch. Das ist auch eine körperliche Herausforderung: "Ich bin schon froh, wenn es mal sechs Stunden Schlaf sind, es waren aber auch schon mal nur drei." Ihre Familie hat sie seit Tagen nicht gesehen, da für diese Woche Plenarsitzungen anstehen, wird es auch noch mindestens bis Donnerstag dauern.
Nach dem Scheitern in der Nacht auf Montag ging es gleich weiter: Am Vormittag im Büro, mittags Landesgruppen-, am Abend Fraktionssitzung, dazwischen der gespannte Blick auf Merkel und Steinmeier. "Keiner weiß, wie es weiter geht", ist auch Bär gespannt. Eine Minderheitsregierung sei eine von vielen Optionen, aber: "Das erfordert eine sehr hohe Disziplin und Leistungsbereitschaft, sich immer unterschiedliche Mehrheiten zu besorgen".
"Der Nachmittag lief eigentlich sehr harmonisch, aber es gab Anzeichen, dass die FDP rausgeht", fasste Dorothee Bär das Scheitern am späten Sonntagabend zusammen. Eigentlich seien die Verhandlungen "sehr diszipliniert" gelaufen. "Es waren sich alle der Tragweite bewusst." Ein Fehler sei aber gewesen, dass man "sehr tief in die Themen" gegangen sei. Das habe vieles verzögert, vielleicht hätten sich die Verhandlungspartner mehr darauf konzentrieren sollen, "ob wir überhaupt zueinander kommen".
Schuld am Scheitern will Bär keinem zuschieben, vor allem will sie es nicht nur der FDP ankreiden: "Wenn die Grünen am Donnerstag schon soweit gewesen wären, wie sie gestern waren, hätte die FDP gar nicht aussteigen können", ist sich Bär sicher. Da sei eine historische Chance vertan worden.
Nicht unmittelbar beteiligt, aber nah dran ist auch die Hammelburger Grünen-Bundestagsabgeordnete Manuela Rottmann: "Ich habe eine SMS aus der Verhandlungsgruppe bekommen, und kurz danach stand Lindner schon vor den Kameras", schildert sie den Moment des Scheiterns: "Das war überraschend, CSU und Grüne hätten sich da wiederfinden können", kommentiert sie den Stand der Verhandlungen, und: "Vielleicht wollten halt doch nicht alle zu einer Lösung kommen." Auf der anderen Seite weiß sie aus ihren bisherigen politischen Erfahrungen, dass es bei Koalitionsverhandlungen auch immer Grenzen gebe.
Überraschend kam das Aus für Rottmann auch, weil viele Hürden bereits aus dem Weg geräumt wurden: "Das war alles nicht einfach", fasst sie die parteiinternen Diskussionen zusammen. Die Fraktion sei in Sitzungen und Telefonkonferenzen auf dem Laufenden gehalten worden: Von Pestizid-Einsatz in der Landwirtschaft über Klimaschutz bis Zuwanderung seien dabei keine völlig unüberwindbaren Zugeständnisse gemacht worden. "Wichtig war mir zum Beispiel, dass wir die, die schon hier sind, besser integrieren", nennt Rottmann als ein Beispiel, bei dem sich die Grünen ihrer Meinung nach selbst mit der CSU hätten einigen können.
Wie es nun weiter geht, ist auch für die neue Bundestagsabgeordnete Rottmann spannend: "Ich fände Neuwahlen nicht gut, aber das haben wir jetzt nicht mehr in der Hand, das muss Merkel entscheiden", sagt sie. Rottmann hofft, dass nun nicht wieder Energie für den Wahlkampf verschwendet werde, deshalb könne sie sich auch eine Minderheitsregierung vorstellen: "Zumindest um die Zeit bis zu Neuwahlen zu überbrücken", sagt sie, und: "Deutschland muss für Europa handlungsfähig bleiben."
Eine Beteiligung der FDP an der nächsten Bundesregierung hätte sich die FDP-Kreisrätin und stellvertretende Bezirksvorsitzende Adelheid Zimmermann gewünscht. "Viele waren guter Dinge, deshalb war ich heute Nacht überrascht", kommentiert die Bad Brückenauerin das Scheitern der Sondierungsgespräche, und: "Ich glaube nicht, dass die FDP die Koalition von Vornherein nicht wollte."
Bei vielen FDP-Mitgliedern herrsche nun große Enttäuschung, fasst Zimmermann die Reaktion auch in sozialen Netzwerken zusammen. Aber es gebe auch andere Stimmen: "Natürlich hat die FDP ein Trauma, in der Regierung unter zu gehen." Zimmermann kann nur vermuten, dass die Verhandlungsführer den Eindruck hatten, "hingehalten" zu werden. Vermisst hat Zimmermann auch ein großes verbindendes Gesamtprojekt für die neue Bundesregierung: "Da habe ich wenig von Merkel gehört." In vielen Themen sah die Kreis- und Bezirksrätin durchaus Übereinstimmungen: "Die FDP ist eine internationale Partei", sagt sie etwa zum Thema Familiennachzug und Integration. "Das würde die soziale Situation beruhigen", setzt sie sich durchaus dafür ein, dass Angehörige ins Land kommen dürfen. Auch bei anderen Themen hätte sie sich eine Beteiligung der FDP an der Regierung gewünscht.
"Wir haben die ganze Zeit mit einem Scheitern rechnen müssen", sagt der Aschaffenburger FDP-Bundestagsabgeordnete Karsten Klein, der am wenigsten überrascht scheint. "Was nach vier Wochen und zwei Verlängerungen auf dem Tisch lag, war nicht akzeptabel", fasst er das zusammen, was am Montag in FDP-Bundesvorstand und -Fraktion besprochen wurde. In vielen Bereichen wie Soli-Abschaffung oder modernes Einwanderungsgesetz seien liberale Forderunmgen nicht erfüllt worden.
"Der Hauptgrund ist das Verhandlungsdurcheinander der Kanzlerin", nennt Klein auch eine klare Verantwortung: Es sei zu wenig wert gelegt worden auf die großen Gemeinsamkeiten. "Frau Merkel dachte, dass sie am Ende ein Weiter-so durchsetzen kann." Es sei nicht offen verhandelt worden. Wie geht es weiter? "Jetzt sind SPD und Union gefordert", sagt Karsten Klein. Auf alle Fälle seien Neuwahlen die schlechteste Variante.
"Ich dachte eher, dass die Grünen da inhaltliche Probleme haben", sagt SPD-Abgeordnete Sabine Dittmar, und: "Die FDP hatte von Anfang an wohl nicht das große Interesse an der Koalition." Auf die Frage, ob sie sich jetzt doch wieder eine große Koalition vorstellen kann, weicht Dittmar aus: "Demokratische Parteien müssen grundsätzlich in der Lage sein, miteinander zu reden", sagt sie diplomatisch. Ob sie sich als letzte Option vor Neuwahlen damit auch eine Regierungsbeteiligung doch noch vorstellen kann, lässt sie offen. Allerdings sei die Zustimmung zur Absage nach der Bundestagswahl auch groß: "Von der Basis nehme ich den starken Wunsch mit, sich in der Opposition zu erneuern", berichtet sie aus vielen Gesprächen im Heimat-Wahlkreis.
Auch Dittmar wollte am Montagmittag aber zunächst die Sitzungen des Fraktionsvorstandes, dem sie angehört, und der Fraktion abwarten. Für unwahrscheinlich hält Dittmar eine Minderheitsregierung: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Frau Merkel darauf einlässt." Das Parlament würde eine solche Regierung zwar stärken, aber die wechselnde Suche nach Mehrheiten sei eben auch mühsam und würde die Rolle Deutschlands in der Welt schwächen.
Auch lokal war das Scheitern der Jamaika-Sondierungen natürlich Hauptthema: "Ich bedauere, dass man nicht zu einem Ergebnis gekommen ist", sagte Landrat Thomas Bold (CSU) am Rande einer Sitzung. "Damit ist unklar, wie es mit der Regierungsbildung weiter geht." Unter anderem sei nun auch Bundespräsident Steinmeier gefordert: "Vielleicht ist gut, dass er so ein erfahrener Diplomat ist", setzt Bold große Hoffnung auf das Verhandlungsgeschick des früheren Außenministers.