Vor 25 Jahren verlässt Michael Keul Bad Kissingen und geht nach München. Sein Ziel: Jazz-Musiker werden. Er erzählt eine Geschichte über faule Kompromisse und eine nicht schwindende Begeisterung.
Mit der Jazz-Musik ist es wie mit dem Leben an sich: Beide sind vielseitig und facettenreich. Es gibt Zeiten, in denen swingt der Mensch locker und gelassen durch den Alltag. Manchmal sind schräge Melodien tonangebend. Und wenn alles um einen trist und schwer ist, wird es Zeit für den Blues. Jede Lebenslage kennt seine Musik.
Irgendwann während seiner Schulzeit verliebte sich Michael Keul in die verschiedenen Melodien des Jazz. Das gilt bis heute.
Noch mit 52 Jahren ist er so verliebt wie damals. Nach dem Abitur kehrt Keul seiner unterfränkischen Heimat für immer den Rücken und lässt sich von der Musik treiben. Gelandet ist er in einem mit Stühlen, Instrumenten und Verstärkerboxen vollgestopften Unterrichtsraum der Musikhochschule München.
Es herrscht kreatives Studentenflair. Michael Keul, ein schlanker Mann mit filigranen Händen, unterrichtet 15 Erstsemester in Jazz-Geschichte.
Gerade spielt er ihnen ein altes Dixieland-Stück vor. "Hello central, please give me doctor jazz", singt Jelly Roll Morton mit dreckiger Stimme. Der Mann fühlt sich nicht gut und braucht eine Dosis Musik als Medizin.
Obwohl das Lied vom Computer abgespielt wird, lässt sich das Alter der Aufnahme erahnen. Im Hintergrund knackt es immer wieder, die Instrumente scheppern, es klingt nach Schellack und Vinyl.
Plötzlich drückt Keul auf Pause und diskutiert mit den Studenten die Feinheiten der musikalischen Arrangements. "Ich kenne kaum einen Musiker, der nicht unterrichtet", sagt Keul. Gerade in der kleinen Jazz-Szene sei es schwer, nur als Live- und Studio künstler seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die meisten Profimusiker seien auf Jobs an Musikschulen angewiesen.
Kilometer für die Musik Zwischen zwei Seminaren beißt er in ein belegtes Brötchen und erzählt, wie er als Schüler jede Woche im einzigen Plattenladen seiner Heimatstadt Bad Kissingen stand und die wenigen Jazz-Platten auf Neuerscheinungen durchstöberte.
Oder dass er regelmäßig 60 Kilometer mit dem Zug fuhr, nur um sich in Würzburg mit englischsprachigen Fachmagazinen einzudecken.
Weil er sich in Bad Kissingen musikalisch nicht ausleben konnte, trieb der Jazz ihn in die Welt: nach Bern, New Orleans und schließlich nach München, wo er sich nach Ende seines Studiums als freiberuflicher Musiker durchschlug. Das war 1988. "Ein Jahr Zeit hatte ich mir gegeben und dann habe ich Bilanz gezogen", sagt er.
Das Leben war anstrengend, aber die Erfahrungen waren es wert.
Er entschied sich zu bleiben. Ironischerweise lebt Keul heute mit Frau und Tochter in Samerberg auf dem Land - eine Stunde Zugfahrt von München entfernt. Das Landleben und das Pendeln hat er nie vollständig hinter sich gelassen.
Keul tingelte zu dieser Zeit durch die Club- und Barszene, ging auf Jam-Sessions, knüpfte Kontakte und erspielte sich Gigs.
"Die Jam-Session ist der Aktienmarkt, auf dem der Wert eines Jazz-Musikers gehandelt wird", erklärt er. Die etablierten Musiker werden so auf Neulinge aufmerksam. "Bist du neu? Ich steh auf deine Musik, gib mir mal deine Telefonnummer", heißt es dann. Für Keul hat das echte Studium erst angefangen, als er bereits sein Diplom in der Tasche hatte: Mit jedem Mal, als damals das Licht anging und er auf der Bühne stand und sich beweisen musste.
Mehr als zehn Jahre lang sammelte er Bühnenerfahrung, bevor er zusätzlich einen Dozentenjob am Jazzinstitut der Musikhochschule annahm.
Jazz als Live-Erlebnis In den Clubs wird Jazz authentisch und lebendig. Thomas Vogler betreibt seit 16 Jahren eine Jazzbar in der Münchener Innenstadt. Bei ihm trifft sich die lokale Szene. Das Licht in der Bar ist gedimmt, die Fensterläden sind geschlossen.
Kerzen auf den dunklen Holztischen sorgen für eine stimmungsvolle Atmosphäre. Im Publikum sitzt das Bildungsbürgertum: Männer mit grau melierten Haaren in Jeanshosen und Hemden, Frauen mittleren Alters mit schicken Blusen und modischen Halstüchern sowie einige Studenten in legerer Kleidung. Auf der Bühne in der Ecke des Raumes beginnt gerade ein Jazz-Duo zu spielen.
Leise perlen die ersten Töne aus dem Klavier, entspannt legt der Kontrabass eine
Melodie darüber. "Die Jazz-Szene in München ist für eine 1,6 Millionen Stadt sehr klein", meint Thomas Vogler, der hinter der Bar steht. Er ist ein trockener Typ Anfang 40, mit bissigem Humor. Er rät, niemals einen Jazz-Musiker zu fragen, ob er Profi sei oder nebenberuflich seinem Hobby frönt. "Das ist die absolute Killerfrage. Damit ist jedes Gespräch beendet", sagt er.
Die Künstler seien ganz eigene Charaktere, die sich voll und ganz ihrem Schaffen hingäben. An diesem Selbstverständnis gebe es nichts zu rühren. Die Musik werde aber dadurch geprägt und erhalte einen besonderen Touch. "Jazz ist unabhängig und erfindet sich ständig neu." Das fasziniert den Barmann, der an sechs Tagen in der Woche ein Live-Programm bietet.
Musikalische Lebensschule Sich neu erfinden und frei ausdrücken. Darin sind Jazz-Musiker Profis. Gerade die Jam-Session, in der jede Note improvisiert und spontan gespielt wird, wird zu einer Art Lebensschule, in der die Musiker lernen, ihren Platz in der Welt zu finden.
"Jazz ist eine Lebenseinstellung. Man nimmt einiges in Kauf, damit man die Musik spielt.
Man verzichtet auch auf einiges", sagt Keul, während er Student Andreas Czok Einzelunterricht gibt. Er braucht diese Begeisterung, um die faulen Kompromisse einzugehen, die zum Musikgeschäft dazu gehören. Als Musiker kann er sich Schöneres vorstellen, als massenweise E-Mails abzuarbeiten. Er findet es lästig sich selbst zu vermarkten, seine Homepage zu pflegen und auf Facebook präsent zu sein.
Auch der Reisestress, die Zeit fernab der Familie ist ein unangenehmes Nebenprodukt des Berufs. "Man muss mit Mühe und Not schauen, dass die Musik nicht zu kurz kommt", sagt er. Die Energie, um rauszugehen und in den Clubs vor Publikum zu spielen, will er sich keinesfalls aussaugen lassen. Er sieht sich nach wie vor als Livemusiker, und tourt am Wochenende mit neuem Programm zur CD "Superfokus" durch Deutschland.
"Jazz ist eine brotlose Kunst.
Wenn mich jemand fragt, ob er Jazz studieren soll, weiß ich nicht, ob ich es mit gutem Gewissen empfehlen soll. Wenn mich aber jemand fragt, ob ich meinen Beruf tauschen möchte, würde ich nein sagen." All diese nervigen Kleinigkeiten haben aber auch etwas Gutes. Sie gehören zur Lebensschule mit dazu. Michael Keul hat sich so im Laufe der Jahre genug Gelassenheit erarbeitet, weiter sein Ding durchzuziehen.
In den Bann geschlagen Seine Liebe für den Jazz treibt ihn an und motiviert ihn. Gleichzeitig treibt sie ihn vor sich her. Er ist darin gefangen und kann trotzdem frei atmen. Michael Keul führt ein Leben zwischen Land und Großstadt, ein Dasein zwischen Musiklehrer und Live-Künstler, eine Existenz zwischen der Liebe für die Musik und zeitfressendem Büroalltag. Das eine bewältigt er swingend, das andere mit leisem Blues.