In "Utopia" befragten die Schauspieler drei Stunden lang die großen Gegenerzählungen auf ihr utopisches Potenzial.
Karl Marx hat die Welt gedeutet, verändert hat er sie nicht. Denn mag sich der Kapitalismus auch noch so oft gehäutet haben, untergegangen ist er bis zum heutigen Tage nicht. "There is no such thing as society", zischte Marx (Angelika Bartsch) entsprechend verdrossen am Freitagabend.
Aus dem Mann, der das Privateigentum abschaffen lassen wollte, sprach in diesem Moment niemand anderes als die ehemalige britische Premierministerin Thachter. Ausgerechnet Thachter, die Hohepriesterin deregulierter Märkte! Hat der einfach nicht sterben wollende Kapitalismus Marx etwa zum Neoliberalen bekehrt?
Die Bloßstellung Marx' war nur einer von vielen Späßen, die Regisseur Stefan Otteni und Dramaturg Remsi Al Khalisi am Freitag auf die Bühne des E.T.A-Hoffmann-Theaters trieben. Gemeinsam mit ihren sechs Schauspielern befragten sie in der Uraufführung von "Utopia - was fehlt?" drei Stunden lang die großen Gegenerzählungen auf ihr utopisches Potenzial.
Dass die Welt eines Neustarts bedürfe, setzte das Ensemble dabei als ebenso bekannt voraus wie der Befund, dass an allen Übeln ursächlich der Kapitalismus Schuld trage.
Analyse, Einsicht, Umkehr - so ging die Parole: Nur wie? "Marx und Engels: Der ganze alte Scheiß noch einmal?", fragte Stephan Ullrich mit ungläubigem Entsetzen. Ja, antworteten ihm seine Schauspielerkollegen: "Alles was gesagt werden muss, wurde längst gesagt. Aber weil niemand zugehört hat, müssen wir alles nochmals sagen."
Zur Strafe fielen Hunderte zerlesener Bücher auf die Bühne. Fortan lagen sie dort als Zeugnisse einer sich selbst fremd gewordenen Welt. Die Schauspieler rissen Seiten aus ihnen, bauten mit den Büchern Türmchen und Mauern.
Was will uns Beuys denn sagen?
Ehrfurcht vor den Ikonen widerständigen Denkens kannte das Bamberger Ensemble nicht. Hölderlin steckte in einem Bärenkostüm, Ghandis Ghandi-Weisheiten klangen aus dem Mund von Angelika Bartsch wie die Sinnsprüchlein asiatischer Glückskekse. Joseph Beuys führte mit Fett im Gesicht einen toten Hasen spazieren und gefiel sich in selbstbezüglichem Raunen: die Gesellschaft als soziale Plastik, jeder Mensch ein Künstler. "Joseph, die Menschen verstehen dich nicht!", klagte Marie Nest.
Die utopischen Energien der großen Weltverbesserungsdenker, so viel war spätestens jetzt klar, sind erschöpft. Auf mehr als die evolutionäre Weiterentwicklung des Bestehenden ist nicht zu hoffen. Dafür aber braucht es keine revolutionär entflammten Denker mehr, dafür genügen erdverwachsene Wissenschaftler. "Wir konsumieren das, was wir nach unseren Bedürfnissen brauchen, und nichts darüber hinaus", zitierten die Schauspieler eine Fantasie des Sozialwissenschaftler Harald Welzer. Verführerisch ist daran nichts, weder Vision noch Worte.
Anemonen und Korallen
So stammten die sinnlichsten Sätze nicht aus Büchern, sondern aus Popsongs. Je weiter der Theaterabend voranschritt, desto mehr wich die Theorie dem Gesang. "Rettet die Wale und stürzt das System", hieß es in einem von Marie Nest gesungenen Lied der österreichischen Sängerin Gustav.
Stephan Ullrich interpretierte ein Lied der Rockgruppe Tocotronic mit der betörenden Zeile "Europas Mauern werden fallen/ an die Anemonen und Korallen." Vollends ergreifend geriet "Utopia", als das in vier Gruppen eingeteilte Publikum mit den Schauspielern einen Kanon sang. Einen Moment lang stiftete das gemeinsame Singen eine Ahnung jener utopischen Brüderlichkeit, die sich in den Texten der großen Denker zuvor nicht finden ließ.
In der Diskussion um die Vertragsverlängerung von Intendantin Sibylle Broll-Pape wurde zuletzt reflexhaft ein politisches und ein unterhaltendes Theaterverständnis gegeneinander ausgespielt.
Der Abend am Freitag entlarvte diese argumentative Gefechtsordnung als Scheingegensatz. Wenn im Marx'schen Sinne politischer Anspruch die These und Unterhaltung die Antithese wäre, dann gelang mit "Utopia" die Synthese: anspruchsvolle Unterhaltung.
Schauspielerin mit Bänderriss
Dazu bedurfte es eines Stücks, das die Balance zwischen Witz und Ernst hielt. Dazu bedurfte es hervorragender Schauspieler, für die stellvertretend Marie Nest und Bärbel Schwarz genannt seien: die eine, weil sie sich in ihrer Spielfreude auch von einem Bänderriss im Fuß nicht bremsen ließ; die andere, weil der Abend ihrer musikalische Virtuosität viel verdankte.
Es bedurfte ferner eines Publikums, das sich auf den wilden Mix zwischen Theorie und Klamauk, Schauspiel und Musik vorbehaltlos einließ. Selten wurde im Bamberger Theater derart viel gelacht, selten war der Applaus euphorischer.
Als der Vorhang fiel, war die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum längst gefallen. Mit Hüten hatten die Schauspieler um Spenden all derer gebeten, die mehr hätten als sie zum Leben benötigten. 166,90 Euro kamen so zusammen. Davon durfte sich später im Foyer bedienen, wer finanziellen Mangel spürte.
Aber war das vermeintlich Utopische nicht einfach nur die theatralische Inszenierung des real existierenden Sozialstaats? Wer hat, der gibt. Halb aus Einsicht, halb aus Zwang. Wem es mangelt, dem wird gegeben. Zum Dank verzichtet er darauf, das System aus den Angeln zu heben. Leben wir, ohne es zu wissen, vielleicht schon in der besten aller denkbaren Welten