Wimmer hält es für besonders schädlich, wenn der Dialog an Bedingungen geknüpft wird, wenn jüdische Gemeinschaften zum Beispiel sagen: Wir reden nur mit Leuten, die das Existenzrecht Israels anerkennen. «Man muss sich eben auch das anhören, was einem nicht passt - denn es ist ja da», ist seine Meinung dazu. «Es wird gedacht, es wird gesagt, es wird entsprechend gehandelt. Und wenn wir nicht darüber sprechen, wird alles nur noch schlimmer.»
Das Lagerdenken steht dem entgegen. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, weiß von seiner Arbeit her, wie stark gerade Jugendliche durch Kurzvideos auf Tiktok und Instagram beeinflusst werden. «Und da ist die Polarisierung sehr ausgeprägt. Sie bekommen nur gefilterte Informationen.» Je nachdem in welcher Kommentar-Sektion man sich bewegt, bekommt man nur Pro-Palästina- oder nur Pro-Israel-Äußerungen zu hören. Gegensätzliche Stimmen werden niedergemacht. Es sei deshalb extrem wichtig, den Nahost-Konflikt und die damit einhergehenden Emotionen in der Schule zu thematisieren, sagt Mendel.
Shai Hoffmann hat bei seiner Arbeit in Schulen allerdings die Erfahrung gemacht, dass sich viele Lehrer nicht mehr an das Thema heranwagen. «Die krasseste Gefahr beim Sprechen über Israel und Palästina ist der Stempel des Antisemitismusvorwurfs. Dieser Vorwurf kann berufliche Existenzen zerstören, und deshalb ziehen sich extrem viele Lehrkräfte mit biografischen Bezügen lieber aus dem Diskurs raus.»
«From the River to the Sea» - sollte das wirklich verboten sein?
Nathan erzählt, dass er an seinem Kölner Gymnasium aufgrund seines jüdischen Hintergrunds kurzerhand zum Nahost-Experten erklärt wurde. «In einem bestimmten Unterrichtsfach wurde ich von meinem Lehrer sehr oft auf die Nahost-Situation angesprochen und gefragt, ob ich nicht gesehen hätte, was Netanjahu jetzt wieder gemacht hätte. Ich fand es schon erschreckend, wie viele Menschen mich automatisch damit verbunden haben, nur weil sie gehört hatten, dass ich jüdisch bin.»
Viele Juden fühlten sich in den vergangenen beiden Jahren alleingelassen - ein Gefühl, das sie mit Palästinensern und Muslimen teilen. «Viele Muslime haben einen Vertrauensverlust gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und der Politik erlebt», berichtet Politologin Cheema. «Sie empfinden es so, dass sie nicht gesehen werden.» Für sie geht es um die Frage, wer in diesem Land Solidarität bekommt, insbesondere auch von oberster Stelle, von der Bundesregierung.
Zudem kritisieren sie eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, etwa durch das Verbot der Parole «From the River to the Sea», die als Leugnung des Existenzrechts Israels verstanden werden kann, das sich zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer erstreckt. Viele ausländische Medien haben Deutschland für den strikten Umgang mit der Parole und die damit begründeten Auflösungen von Pro-Palästina-Demonstrationen scharf verurteilt.
Nun ist die große Hoffnung da, dass der Krieg im Gazastreifen auf Dauer zu Ende ist - und damit auch der Dialog in Deutschland wieder in Gang kommt. Allerdings besteht Einigkeit darüber, dass dies ein langer und steiniger Weg werden wird. «Es wird lange dauern, neue Beziehungen aufzubauen, wieder aufeinander zuzugehen», analysiert Cheema. Sie selbst ist da die große Ausnahme: Aufgewachsen in einem konservativ-muslimischen Umfeld in Frankfurt, ist sie heute mit dem in Israel geborenen Meron Mendel verheiratet. Das Ehepaar engagiert sich seit Jahren im jüdisch-muslimischen Dialog, arbeitet gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit.
Nathan sieht für sich keine Zukunft mehr in Deutschland
Viele andere glauben nicht mehr an eine Wende zum Guten. «Ich bin ganz klar der Meinung, dass das Verhältnis zerrüttet ist», sagt Nathan, der dieses Jahr Abitur gemacht hat. «Die Gesellschaft hat sich durch diesen Konflikt zu sehr gespalten.»
Sieht er seine persönliche Zukunft in Deutschland? «Nein, auf keinen Fall», ist die Antwort. «Wenn ich langfristig denke, möchte ich in diesem Deutschland mit wachsendem Antisemitismus keine Familie großziehen. Man fühlt sich einfach extrem unsicher hier. Dass ich mit meiner Davidstern-Kette über dem T-Shirt nicht über die Straße gehen kann, ohne mit Gewalt oder Beleidigungen zu rechnen, das ist traurig.» Dabei ist das Land doch seine Heimat, alle seine Freunde leben hier. «Aber so wie die aktuelle Situation ist, sehe ich keine Zukunft in Deutschland.»