Gerhard Schlötzer erhält den diesjährigen Berganza-Preis des Bamberger Kunstvereins. Seit 1990 arbeitet der freiberufliche Künstler vor allem als Architektur-Fotograf. Das Zeichnen genießt er als Befreiung.
Das Ambiente ist gruselig, zweifellos. Fußboden und Wände gefliest, ein angeschmuddelter Sektionstisch nebst Wanne für die Organablage, auf Türen steht "Kühlraum" oder "Einsargungsraum". Nein, die ehemalige Pathologie des alten Krankenhauses ist kein romantischer Platz; wenn man sich vorstellt, hier tagaus, tagein Leichen zerteilen zu müssen . . . bleibt wenig von modischem Fernsehkrimi-Glamour. Doch nach dem Exodus der Mediziner kamen den Künstlern die Räume am Leinritt gerade recht. Einer von den Okkupanten ist Gerhard Schlötzer.
Gemütlich sieht es auch heute nicht aus. Dazu hat der 45-Jährige zu viel Utensilien, Materialien und Werke um sich versammelt. Für seine Profession braucht es einiges an Ausrüstung. Schlötzer ist kein Hobbyknipser, nicht einmal einer der ambitionierteren Art, er ist ein künstlerischer Fotograf, der mit Großformatkameras arbeitet, dementsprechend auch großen Abzügen auf Spezialpapier. Dafür wiederum braucht er Vergrößerungsgeräte, Stative, jede Menge Chemikalien. Dies alles füllt seit 1998 den ehemaligen Pathologen-Keller und eine voll gestopfte ebenerdige Kammer. Man schließt unschwer aus dem bisher Gesagten: Schlötzer ist der analogen Fotografie verpflichtet. Ein Dinosaurier? Mitnichten. "Ich setze die Digitalkamera da ein, wo sie sinnvoll ist."
Den Sinn kann der gebürtige Forchheimer sehr wohl beurteilen. Nach dem Abitur kam er 1984 nach Bamberg und studierte Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Kunsterziehung, fotografiert seit 1990 hauptberuflich. Architektur meist, Auftragsarbeiten, für eigene Projekte. Dokumentarisches wie das aktuelle Vorhaben "Bamberg - Zeitgeschichte im aktuellen Raum". 220 Fotos wird er im Auftrag des Historischen Vereins nicht "schießen", sondern komponieren. Die Kunsthistorikerin Gabriele Wiesemann wird Texte dazu verfassen. Momentaufnahmen einer sich ständig wandelnden Stadt in Großaufnahmen, dazu bestimmt, in den Arsenalen des Stadtarchivs zu verschwinden, kommenden Generationen zu dienen.
Einen Walker Evans nimmt er sich zum Vorbild, der deprimierende Dokumentationen aus der amerikanischen Depressionszeit geschaffen hat. Jedoch: Als parteiischer Fotograf versteht sich Schlötzer nicht. Er möchte dem Betrachter differenzierte Lesarten offenlassen.
So wie beim zweiten Standbein seines künstlerischen Schaffens. Eine Erholung, die Zeichnerei. Es ist "das Fluchtmedium aus der extremen Handwerklichkeit des fotografischen Prozesses". Niemals gegenständlich - der Betrachter soll frei assoziieren. So wie sich der Künstler bei seinen Musikzeichnungen von Tönen inspirieren lässt. Die "Tristan"-Ouvertüre kann das sein. Gerne Free-Jazz-Schnipsel von Steve Lacy oder Evan Parker. Auch John Coltranes "Impressions" führen ihm gleichsam die Hand, wenn er mit Bleistiften unterschiedlicher Stärken Linien in zunehmender Komplexität - "die Konventionen schlagen zurück, der Gestaltungswille wird im Lauf der Arbeit stärker" - auf mitunter riesige Formate zeichnet. Wie auf eine Rotunde in der Dessauervilla. Die Surrealisten haben Vergleichbares mit ihrem automatischen Schreiben vorgemacht.
Unschwer assoziiert man in dem Geflecht Gebüsch, Geflecht, Gespinst. Was Wunder, dass der Fotograf/Zeichner mit einer 8-mal-10-Inch-Kamera Bäume und Büsche fotografiert. Die "Ordnung in der Komplexität" inter
essiert ihn. Aber zur Landesgartenschau marschierte und schwamm er immer geradeaus entlang imaginärer Linien, filmte diesen "Achsengang". Das haben die Situationisten - wir erinnern uns, zu dieser Gruppe gehörte der gebürtige Bamberger Dieter Kunzelmann - und der legendäre Radiomacher Ralf Huwendiek vorgemacht. In Bamberg war Schlötzer mit seiner Aktion der Erste. Der Streifen wird in der Ausstellung mit dem Titel "Linien und Achsen" zu sehen sein. Klingt das alles ein bisschen hermeneutisch? Muss es nicht. Gerhard Schlötzer ist auch ein Handwerker und als Zweiter Vorsitzender des BBK Funktionär. Er kann sogar leben von seinen Arbeiten: "Momentan bin ich nicht prekär."