Blieb nur noch die Frage: Wo genau versteckt sich der Titel? Bei dieser Suche profitierten Nowak und Roth von ihrer Vorarbeit. "Wir hatten in einem früheren Scan bereits Indizien für den Titel entdeckt", erklärt Roth. Die Vermutung: Der Titel könnte in der letzten Kolumne am Ende der Rolle stehen. Doch die Unsicherheit blieb – was sie als potenzielle Buchstaben identifizierten, hätte auch technisches Rauschen sein können. Zusätzlich erschwerte ein Loch im ursprünglichen Scan genau an dieser entscheidenden Stelle ihre Arbeit.
Die ersten Leser nach gut 2.000 Jahren
Mit einer neuen Segmentierung, die das problematische Loch beseitigte, gelang den beiden Forschern der Durchbruch. Das Ergebnis: griechische Buchstaben, die auch den Experten Fleischer überzeugten: "Hier handelt es sich eindeutig um den Titel und den Namen des Autors. Vermutlich war ich einer der Ersten, die den Titel seit der Antike wieder gelesen haben – nicht nur gesehen." Ein schönes Gefühl sei das gewesen.
Für den Philologen interessant daran ist, dass Philodem dieses Werk "Über die Laster und entsprechenden Tugenden" Vergil und seinen Freunden gewidmet hat. "Ich vermute, dass er in diesem ersten Buch auch näher auf sein Verhältnis zu Vergil eingeht – was auch für Latinisten hochspannend wäre", sagt Fleischer. Zwar ist bislang fast nur der Titel der verkohlten Schriftrolle entziffert, aber weitere Abschnitte sind bereits eingescannt. "Ich hoffe, dass Würzburg und Tübingen bei der weiteren Erschließung der Rolle technisch und philologisch eine wichtige Rolle spielen werden", so der Wissenschaftler.
An Nowak und Roth soll es jedenfalls nicht scheitern: "Wir machen weiter. Es macht Spaß", sagen sie übereinstimmend. Ihre Motivation verbindet Freude mit Fachinteresse, denn die Arbeit mit KI und Methoden des Machine Learnings ergänzt ihr Studium beziehungsweise ihren Beruf ideal. Die Vesuvius Challenge bietet mittlerweile monatliche Preise für Fortschritte bei der Entschlüsselung der rund 1.000 Schriftrollen, die in der nur teilweise ausgegrabenen Villa gefunden wurden. Archäologen vermuten deshalb, dass im Untergrund noch viele weitere Schriftrollen verborgen liegen könnten.
Die Schriftrollen aus Herculaneum
Als im Jahr 79 nach Chr. der Vesuv ausbrach, wurde nicht nur Pompeji verschüttet. Auch das benachbarte Herculaneum wurde von den Ausläufern mehrerer pyroklastischer Ströme getroffen. Glühend heiße Lawinen aus Asche, Gas und Gestein rasten mit tödlicher Wucht über die Stadt hinweg und begruben sie und ihre Bewohner meterhoch. Erst im frühen 18. Jahrhundert sollte die Stadt wiederentdeckt werden.
Bei den Ausgrabungen stießen die Archäologen auch auf eine Villa, die einen seltenen Schatz enthielt: eine umfangreiche Bibliothek mit etwa 1.000 Buchrollen in griechischer Sprache – die Bibliothek des griechischen Philosophen Philodem. Als Schriftrollen sind diese allerdings nur noch schwer zu identifizieren. Nach dem Kontakt mit heißen Asche- und Gasströmen und 1.700 Jahren unter Gesteinsmassen gleichen sie eher verbrannten Kohlebriketts oder Holzstücken. Versuche, sie physisch zu öffnen, scheiterten und zerstörten bereits mehr als 600 Schriftrollen.
Die Vesuvius Challenge
Seitdem arbeiten Wissenschaftsteams aus aller Welt intensiv und mit modernster Technik daran, die gut 2.000 Jahre alten Schriftrollen virtuell aufzurollen, zu entziffern und zu lesen. Als die Tech-Unternehmer Nat Friedman und Daniel Gross von diesen Bemühungen hörten, starteten sie Anfang 2023 einen Wettbewerb, die "Vesuvius Challenge". Ziel ist es, Forschungsteams weltweit bei der Entschlüsselung der Textfragmente zu unterstützen.
Mehr Informationen: https://scrollprize.org/
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