Familie in ständiger Angst

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Diana und Igor Nazarenko wollen sich vor ihren Kindern Erika und Renat nicht anmerken lassen, wie heikel die Lage ist. Die deutsche "Oma" Christl Dralle weiß Bescheid.
Diana und Igor Nazarenko wollen sich vor ihren Kindern Erika und Renat nicht anmerken lassen, wie heikel die Lage ist. Die deutsche "Oma" Christl Dralle weiß Bescheid.
Duldung widerrufen: Werden die Nazarenkos demnächst abgeholt und abgeschoben? Freiwillig ausreisen werden sie nicht. Fotos: Diana Fuchs
Duldung widerrufen: Werden die Nazarenkos demnächst abgeholt und abgeschoben? Freiwillig ausreisen werden sie nicht.  Fotos: Diana Fuchs
 
Diana und Igor Nazarenko wollen sich vor ihren Kindern Erika und Renat nicht anmerken lassen, wie heikel die Lage ist. Die deutsche "Oma" Christl Dralle weiß Bescheid. Diana Fuchs
Diana und Igor Nazarenko wollen sich vor ihren Kindern Erika und Renat nicht anmerken lassen, wie heikel die Lage  ist. Die deutsche "Oma" Christl Dralle weiß   Bescheid.  Diana Fuchs
 
Bernd Moser
Bernd Moser
 
Alexander Wolff
Alexander Wolff
 
Petra Dlugosch
Petra Dlugosch
 
Klaus Kröckel
Klaus Kröckel
 

Nacht für Nacht werden Menschen abgeschoben. Obwohl bestens integriert, droht auch Familie Nazarenko dieses Schicksal.

Auf dem Fenstersims stehen Blumen. An der Wand hängen bunte, selbst gemalte Bilder der Kinder. Diana Nazarenko kocht in der Küche Tee. Ihr Mann Igor sitzt am Tisch und liest. Nebenan spielen die beiden Kinder mit ihrer deutschen "Oma". Der neunjährige Renat zeigt ihr gerade zwei goldene Medaillen, die er beim Sport im Kitzinger "Dragon Gym" errungen hat. Alles wirkt friedlich und ruhig. Doch Diana Nazarenko hat Ringe unter den Augen. Seit Wochen schläft sie nicht richtig. Jedes Auto, das in der Nähe anhält, schreckt sie auf. Leise, so dass die Kinder es nicht hören können, sagt sie: "Wenn sie uns nachts holen und wegbringen, können wir nichts dagegen tun."

Diana Nazarenko ist 38 Jahre alt, eine zierliche Frau mit dunklem Haar und braunen Augen. Sie war noch ein Kind, als sie mit ihrer Mutter, einer Armenierin, und ihrem Bruder Mitte der 90er Jahre von Georgien - der Heimat des Vaters - in die Ostukraine zog. 20 Jahre lang war alles gut. Dann kam der Krieg, und das Leben wurde schrecklich kompliziert.

"Wir lebten in Lyman, im Gebiet von Donezk. Im Frühjahr 2015 kidnappten Separatisten Igor, als er gerade angeln war. Drei Tage lang hielten sie ihn fest und zwangen ihn, wie andere Männer auch, für sie Schützengräben auszuheben", berichtet Diana Nazarenko in gutem Deutsch. "Ich wusste nicht, wo er war, und hatte schreckliche Angst um ihn. Zum Glück ließen sie ihn wieder frei. Aber wenig später nahm ihn die ukrainische Armee fest, weil es hieß, er hätte für die Russen gearbeitet." Die 38-Jährige schüttelt den Kopf. "Das war furchtbar."

Als Igor fliehen konnte, berichtete er seiner Frau von einem Schlepper, den er kennengelernt hatte. Die beiden beschlossen, dem Mann Geld zu geben und zu flüchten. In einer Nacht- und-Nebel-Aktion packte das Paar im Mai 2015 seine Sachen, nahm Abschied von den Eltern und machte sich mitsamt dem kleinen Sohn Renat auf den Weg in den Westen. Über Stationen in den Flüchtlingslagern Karlsruhe, Zirndorf und Fürth kam die kleine Familie nach Kitzingen, wo sie seither im Corlette-Circle lebt. Im März 2016 kam in der Kitzinger Klinik Töchterchen Erika auf die Welt.

Diana Nazarenko hatte auf einen Neuanfang gehofft. Auf Sicherheit in Deutschland. Sie hatte in der Ukraine als Sonderpädagogin und Logopädin gearbeitet sowie später in der örtlichen Arbeitsagentur. Ihr Mann Igor hatte als Zugmechaniker unter anderem Lokomotiven repariert. Beide dachten, ihre Fähigkeiten könnten in Deutschland nützlich sein. "Außerdem sind wir flexibel und arbeiten uns auch gerne in andere Bereiche ein." Doch so weit kam es nicht. Im November 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Asylanträge der Nazarenkos ab. Begründung: Die Lage in der Ukraine sei nicht mehr gefährlich, zudem könne die Familie ja innerhalb der Ukraine in eine Gegend ziehen, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert werde.

Diana Nazarenko sagt dazu: "Ich denke, es ist sehr wohl gefährlich. Meine Mutter hatte schon zweimal 'Besuch' von Unbekannten, die herausfinden wollten, wo Igor ist." Igor selbst sagt: "Wir könnten in der Ukraine nicht in Frieden leben." Die Armee gehe mit Geflüchteten nicht zimperlich um. Die Familie legte Berufung gegen das BAMF-Urteil ein. Vergeblich.

Nicht nur für Renat, der in die dritte Grundschulklasse geht und ein Einserschüler ist, sowie seine kleine Schwester Erika, die den Kindergarten St. Elisabeth besucht, würde ein "Rückzug" bedeuten, dass sie all ihre Freunde verlieren. Auch die Eltern sind gut integriert: Igor führt ehrenamtlich eine Fahrradwerkstatt und unterstützt den Hausmeister im Corlette-Circle, Diana engagiert sich ehrenamtlich als Alltagsbegleiterin für die Fachstelle für pflegende Angehörige, als Dolmetscherin für andere Flüchtlinge und im Frauentreff. Schon zweimal musste sie ein Ausbildungsangebot als Gesundheits- und Krankenpflegerin ausschlagen - weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung und damit keine Arbeitserlaubnis bekam. Ab 1. April 2020 könnte sie erneut die Ausbildung zur Krankenpflegerin beginnen - im Würzburger Juliusspital. Doch eine beantragte Duldung lehnte die Ausländerbehörde ab. Da die Nazarenkos nicht freiwillig ausreisen wollen, "wurde eine Aufenthaltsbeendigung konkret vorbereitet", heißt es in einem Brief des Bayerischen Integrationsministeriums vom Dezember 2019. Will heißen: Die Abschiebung naht.

"Sie leben in ständiger Angst", sagt Christl Dralle. Die 82-jährige Kitzingerin hat Familie Nazarenko vor rund vier Jahren zufällig auf einem Kitzinger Spielplatz kennen gelernt. Seither sind Christl und ihr Mann Günter Dralle so etwas wie Oma und Opa für Renat und Erika. "Wir lieben sie wie eigene Enkelkinder. Und auch die Eltern sind uns ans Herz gewachsen", sagt Christl Dralle. "Sie sind weltoffen, gebildet, gewissenhaft, zuverlässig und sehr herzlich." Dass Diana Nazarenko für ihre Krankenpflegeschule keine Arbeitserlaubnis von der Zentralen Ausländerbehörde bekommt, können die Dralles nicht begreifen: "Die Klinik möchte sie unbedingt haben, da sie gut Deutsch spricht und Pädagogik studiert hat. Warum schicken wir in Deutschland so jemanden weg, wo wir doch akuten Mangel an Pflegekräften haben?"

Diana Nazarenko hat alle behördlichen Unterlagen säuberlich geordnet. Ein dicker Stapel ist zusammengekommen. Allein das Protokoll der abschließenden Anhörung im Landtag umfasst mehrere Seiten und es klingt viel Positives durch - Lob für den ehrenamtlichen Einsatz der Nazarenkos. Dennoch: Als die Familie von der ukrainischen Botschaft in München Reisepässe erhielt und damit "die Identität geklärt ist", widerriefen die Behörden die vorläufige Duldung.

"Igor hätte schon bei zwei Baufirmen anfangen können zu arbeiten, außerdem hatte er ein Angebot als Weinbergshelfer. Aber das zählt nicht. Wir können jederzeit abgeschoben werden", sagt Diana Nazarenko. So, wie die fünfköpfige Familie aus Aserbaidschan, die jahrelang neben den Nazarenkos gewohnt hat. Vor wenigen Tagen wurde sie frühmorgens abgeholt. "Um fünf Uhr früh sind zehn Polizisten sind gekommen und haben sie mitgenommen. Was sie von ihrem Eigentum nicht tragen konnten, steht immer noch im Nachbarhaus."

Was wäre, wenn es Dianas Familie ebenso ergeht? Die 38-Jährige will nicht daran denken. Auch "unterzutauchen" kommt für sie nicht in Frage. "Erika geht jeden Morgen in den Kindergarten, Renat in die Schule. Wir wollen sie nicht beunruhigen. Und wir sind doch keine Verbrecher, die sich verstecken müssen." Um sich weiter fortzubilden, besucht Diana Nazarenko derzeit die Hauswirtschaftsschule im Kitzinger Amt für Landwirtschaft, "dafür braucht man keine Genehmigung". Trotzdem nagt immer wieder die Frage an ihr: Wo sollte ihre Familie nach der Abschiebung hin? Die Kinder Renat und Erika können zwar sehr gut Deutsch und Russisch sprechen, aber das Ukrainische und die kyrillische Schrift sind ihnen fremd.

"Mir zerreißt es das Herz, wenn ich daran denke, dass Diana und ihre Familie abgeschoben werden", sagt Olga Laber, eine Freundin, die schon lange in Kitzingen lebt. "Warum zählt es nicht, dass die Familie alles tut, um sich zu integrieren und ihren Teil beizutragen? Warum dürfen andere bleiben, die sich ganz offensichtlich nicht integrieren? Was ist das für eine Gesellschaft?"

Sachstand: Johannes Hardenacke, Pressesprecher der zuständigen Regierung von Unterfranken, teilt aktuell mit: "Wir warten noch auf das Ergebnis der abschließenden Anhörung im Landtag." Wie viele Tage das dauert? Hardenacke kann es nicht sagen. Es werde erst dem Innenministerium vorgelegt. "Das Ministerium erteilt daraufhin Rückmeldung hinsichtlich der Umsetzung einer Entscheidung."

STIMMEN VON BEKANNTEN:

"Die Nazarenkos sind grundsolide und sehr hilfsbereite, engagierte Menschen. Wenn die Familie in Deutschland bleiben könnte, wäre das positiv für unsere Gesellschaft - auch im Hinblick auf Arbeitskräfte, die dringend gebraucht werden. "----Bernd Moser,

Altoberbürgermeister von Kitzingen, ehrenamtlicher Deutschlehrer

"Wir kennen die Nazarenkos seit Juli 2015. Für Igor besteht die reale Gefahr, nach einer Abschiebung in die Ukraine zum Militärdienst eingezogen und an der Front zum Separatistengebiet "verheizt" zu werden. Die jetzige Situation ist schizophren: Während ganz Deutschland über den Mangel an Pflege- und Fachkräften jammert, bekommen die Nazarenkos keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis." --- Prof. Dr. Alexander Wolff,

Lehrstuhl für Informatik

"Es ist absurd, einerseits erhalten wir Preise und Fördermittel vom Bund für Integrationsprojekte - aber auf der anderen Seite kämpfen wir gegen menschenverachtende Bürokratie in den Behörden.

Es scheint uns, dass nur eine Abschiebung oder eine Ablehnung das Ziel der Behörde sein darf."----- Petra Dlugosch , Geronotologin,

Dipl.-Sozialpädagogin, Mehrgenerationenhaus

St. Elisabeth Kitzingen

"Bei Igor Nazarenko fiel mir besonders seine ruhige und besonnene Art in Stresssituationen auf. Er ist absolut zuverlässig und verantwortungsbewusst."---- Dr. Klaus Kröckel

Verantwortlicher für die Fahrradwerkstatt

im Corlette-Circle, wo Igor Nazarenko ehrenamtlich arbeitet