Vom Schlot springen will Nasratullah Popalzei nicht mehr

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Vor drei Jahren wollte sich Nasratullah Popalzai vom Schlot der alten Spinnerei in Kulmbach in den Tod stürzen. Jetzt hat der Afghane Arbeit, eine Wohnung. Die Verzweiflung ist der Hoffnung gewichen - aber die Angst vor der Abschiebung bleibt. Foto: Jochen Nützel
Vor drei Jahren wollte sich Nasratullah Popalzai vom Schlot der alten Spinnerei in Kulmbach in den Tod stürzen. Jetzt hat der Afghane Arbeit, eine Wohnung. Die Verzweiflung ist der Hoffnung gewichen - aber die Angst vor der Abschiebung bleibt. Foto: Jochen Nützel
Der Moment der Umkehr: Nasratullah Popalzai steigt herab vom Schlot der alten Spinnerei, von dem sich der Afghane stürzen wollte. Foto: S. Tiroch
Der Moment der Umkehr: Nasratullah Popalzai steigt herab vom Schlot der alten Spinnerei, von dem sich der Afghane stürzen wollte. Foto: S. Tiroch
 

Vor drei Jahren wollte sich der Afghane von der alten Spinnerei stürzen. Er hat mittlerweile Arbeit, eine Wohnung - und trotzdem Angst vor der Abschiebung.

Die erste Stufe, die zweite, die dritte. Die Eisentreppe ist kalt, die Reihen roter Klinkersteine schieben sich monoton in sein Gesichtsfeld. Vier, fünf, sechs. Höher rauf. Fünfzehn, zwanzig. Nicht nachlassen. Er hat es geplant, bis oben zu kommen und zu sterben. Ein paar Minuten hoch, ein paar Sekunden runter im freien Fall, dann ist alles vorbei. Die Angst, der Schmerz, die Sinnlosigkeit.
Nasratullah Popalzai hat mit seinem Leben abgeschlossen an jenem 31. Januar 2013. Er ist 22 und sieht keinen Ausweg. Seine Tätigkeit als Helfer in einem Fastfood-Restaurant hat er verloren, die Abschiebung droht in eine Heimat, die Hölle geworden ist. Afghanistan - das ist nicht mehr sein Land. "Al-Qaida regiert dort, da kann ich nicht zurück. Ich habe für die Amerikaner gearbeitet." Er war Soldat im Krieg und diente als Bodyguard für einen ranghohen US-Offizier.
"Für die Taliban sind das die Besatzer." Nasratullah Popalzai hat also den Todfeind beschützt. Das Todesurteil für den gelernten Automechaniker.
Es bleibt 2010 nur die Flucht; zurück bleiben seine Frau und seine Eltern (sie siedeln nach Pakistan um). Mit dem Auto über die Grenze in den Iran, 200 Kilometer Fußmarsch in die Türkei. Von Griechenland geht es auf der Ladefläche eines Lastwagens nach Italien. "30 Stunden auf engstem Raum", erinnert sich der Afghane. Schließlich landet er in Germany, Auffanglager Zirndorf. Von dort kommt er nach Kulmbach. "Die Stadt ist gut, die Menschen sind gut."


Däumchendrehen kann er nicht

Nicht gut ist: Er ist in der Asylunterkunft in der Pestalozzistraße zum Nichtstun verdammt. "Ich wollte arbeiten, mein eigenes Geld verdienen, mein Leben organisieren." Nasratullah Popalzai holt sich Bücher, lernt Deutsch lesen und sprechen, bemüht sich um eine Anstellung. "Manch anderer hat gesagt, ich sei blöd. Früh aufstehen für den Job - es gibt Geld doch auch einfacher." Aber Handaufhalten und Däumchendrehen, das kann er nicht, sagt er. "Und etwas Illegales zu tun, kam nie infrage."
Schlafen, essen, warten: Monatelang geht das so. Zu viel für den jungen Afghanen, der mit großer Hoffnung gekommen war. Die Idee vom Freitod bricht sich langsam Bahn in ihm. "Jetzt bin ich froh, dass ich nicht gesprungen bin." Der heute 25-Jährige lacht, aber nur kurz. Denn alles im grünen Bereich ist bei ihm nicht. Aber schon vieles. Er hat Arbeit gefunden, lässt sich zum Maurer ausbilden bei einer Baufirma. "Ich bin dankbar dafür." Er hat eine kleine Wohnung bezogen. Die Miete zahlt er selber, Essen und Kleidung auch. "Ein bisschen kann ich sparen für den Tag, wenn meine Frau kommt."
Fünf Jahre hat er sie nicht im Arm gehalten, sehen kann er sie nur über Skype, einmal pro Woche. "Ob das mit dem ..." Er überlegt, wiegt den Kopf. Wie heißt das Wort? - Nachzug? "Genau, ob es mit dem Nachzug klappt, ich weiß es nicht." Dafür müsste Nasratullah Popalzai einen dauerhaften Bleibestatus haben. Doch den hat er nicht.
Der junge Mann ist in einer Duldungsschleife gefangen. Er zeigt seinen Ausweis und deutet mit dem Finger auf die Worte, die ihn ängstigen: Der Inhaber ist ausreisepflichtig. Kurios: Er darf Bayern nicht verlassen, sonst bekäme er Ärger. Vor ein paar Tagen klingelte die Polizei an der Tür des Nachbarn. "Ich habe die Beamten im Flur stehen sehen und gleich wieder die Tür zugemacht." Die Angst bleibt sein Begleiter. "Ich muss doch jeden Tag damit rechnen, dass jemand kommt und sagt: "Nasratullah, du musst zurück nach Afghanistan." Nein, nie wieder.


"Köln fällt negativ auf alle zurück"

Dann kam noch die Sache mit Köln und den Übergriffen auf Frauen "Ich bin selber Ausländer und finde es absolut falsch, wie diese Männer sich verhalten haben. Das fällt auch negativ auf alle Nicht-Deutschen wie mich zurück." Er holt weit aus, greift nach seinem Turban, der neben ihm liegt, dreht ihn zwischen den Fingern.
Eine Religion, sagt er, dürfe dafür weder als Erklärung noch als Entschuldigung dienen. "Ihr sagt Gott, wir sagen Allah. Es gibt bei uns schlechte und gute Menschen, genau wie bei euch. Ich bin Moslem und respektiere Christen, Buddhisten und andere. Ganz abgesehen vom Glauben: Wir sind alle Menschen. Wer hat das Recht zu sagen, der eine ist mehr wert als der andere? Nur unser aller Schöpfer: Er ist der Einzige, der Leben geben und nehmen darf. Nicht wir Menschen. Deswegen verdamme ich auch den Krieg."


Ein Todeskandidat der Taliban

Und er will auch nicht wieder leben müssen in einem vom Krieg zerrissenen Land. Erst die Russen, dann die Taliban. "Ich komme aus Paktia, das ist eine Hochburg von Al-Qaida." Nasratullah Popalzai lächelt gequält. Die Wohnung, in der er und seine Familie vor Jahren lebten, ist konfisziert worden. Von den Taliban für die Taliban. "Ein Nachbar, selber Al-Kaida-Kämpfer, weiß, wo ich untergekommen bin. Er hat komische Andeutungen gegenüber meinem Vater gemacht."
Als der schwer krank ist, kann sein Sohn aus Kulmbach nicht einmal zu ihm. "Ich wäre in wenigen Stunden aufgespürt worden. Und dann..." Er macht eine abschneidende Handbewegung am Hals entlang. Ein guter Freund, der mit ihm als Soldat Dienst tat, lebt nicht mehr. "Ich habe ein Bild von ihm mit abgetrenntem Kopf gesehen." Die Taliban kennen kein Pardon.
Zurück also kommt nicht infrage. Nochmals auf den Schlot steigen? "Nein, nie wieder."

"Herr Popalzai hat nichts zu befürchten"

Zehn Afghanen leben nach Auskunft der Ausländerbehörde im Landratsamt im Status der Duldung in Kulmbach. "Duldung bedeutet eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines zur Ausreise verpflichteten Ausländers", erklärt die für Asylangelegenheiten zuständige Sachbearbeiterin Isabella Burger. Die Geduldeten haben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen negativen Bescheid auf ihren Asylantrag erhalten, sie müssten demnach Deutschland umgehend verlassen. Eigentlich.
Aber: Es gibt verschiedene Gründe, warum die Abschiebung (noch) nicht vollzogen wird. "Beispielsweise weil kein Pass vorliegt und die tatsächliche Identität des Betroffenen nicht eindeutig geklärt werden kann." Zudem gebe es gewisse Staaten, in die nicht abgeschoben werde - Afghanistan zählt dazu. "Die betroffenen Afghanen haben also nichts zu befürchten." Nach Ermessen kann eine Duldung auch von Dauer sein, etwa wenn der Betroffene Arbeit gefunden hat. Das ist bei Nasratullah Popalzai der Fall. "Wenn er mit seiner Ausbildung fertig ist, kann er einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis stellen", sagt Burger. Diese ist in der Regel zunächst befristet.