Spiel's noch einmal, Christian: Dietmar Kraatz (81) kann wieder bewusst lauschen, wenn ihm sein Lebensretter Christian Landendörfer auf der Ukulele vorspielt. Mittlerweile ist Kraatz wieder zu Hause. Fotos: Nützel
Dem mutigen Eingreifen von Christian Landendörfer verdankt Dietmar Kraatz, dass er nicht beim Baden in der Kieswäsch ertrunken ist. Der 28-jährige Kinderpfleger aus Thurnau war zufällig da und zog den 81-Jährigen aus dem Wasser. Aber diese Geschichte bietet noch weitere unglaubliche Zufälle.
Wann ist ein Zufall kein Zufall mehr, sondern Fügung? Oder gar Schicksal? Ein großes Wort, das inflationär gebraucht wird. Doch im folgenden Fall wohl passt, denn es geht um nicht weniger als um Leben und Tod, um zufällige Begegnungen und zwei Menschen, die seit dem 10. Juli nicht mehr dieselben sind.
Das Leben von Dietmar Kraatz hängt an jenem Freitag gegen 15.30 Uhr am seidenen Faden. Leblos treibt er, das Gesicht unter Wasser, in der Kieswäsch. Trotz seines Alters von 81 fährt er noch regelmäßig an den Oberauhof, um dort seine Bahnen zu ziehen. Selbst im April, wenn noch keiner den Sprung ins nicht kühle, sondern kalte Nass wagt. Routine für den gebürtigen Berliner, der als Kind viele Jahre in Schweden verbracht hat. Ein Wikinger, dem Kälte nichts anhaben kann. Diesmal aber ist alles anders.
Aus der üblichen Abkühlung wird tödlicher Ernst.
Auslöser bislang unklar
Was genau der Auslöser ist, konnte bislang medizinisch noch nicht geklärt werden. Jedenfalls verliert der Wahl-Mainleuser im Wasser plötzlich das Bewusstsein. Zu dem Zeitpunkt, 50 Meter entfernt am Rand des Nah erholungsgebietes, ahnt Christian Landendörfer, 28, aus Thurnau noch nicht, dass er gleich zum Lebensretter wird. Der gelernte Kinderpfleger, der im Hort von St. Hedwig arbeitet, ist mit einer Gruppe sieben- bis zehnjähriger Jungen und Mädchen und deren Erzieherin dort. Ein Zufall, denn eigentlich war ein Besuch im Freibad geplant; doch den Kindern war das Wasser zu kalt, und so ging es an die Kieswäsch zum Toben.
Die Gruppe ist bereits im Aufbruch begriffen. Beim Packen seiner Tasche blickt Christian Landendörfer nochmals kurz aufs Wasser.
Er sieht Dietmar Kraatz, den er bis dato nicht kennt, an der Wasseroberfläche treibend. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Zwei Mädchen schwimmen gerade in die Richtung des Mannes - und schreien. "Das war für mich wie
ein Signal", sagt Landendörfer. Der 28-Jährige überlegt nicht lange: Er zieht seine Hose aus, springt ins Wasser, schwimmt los. Immer näher kommt er dem leblosen Körper. Als er bemerkt, dass Dietmar Kraatz schon blau verfärbt ist, hakt er sich unter und bugsiert das Gesicht des Mannes aus dem Wasser. Reaktion? Keine. Atmung? Keine. Kommt er zu spät?
Als Christian Landendörfer sich und den 81-Jährigen zurück ans rettende Ufer bringt, wird ihm erst gewahr, wie schwer die Person ist, die er da im Schlepptau hat. Der 28-Jährige ist 1,63 Meter und wiegt 65 Kilo. Fast 50 Kilo mehr wiegt der Verunglückte, ein Hüne von fast 1,90.
"Ich würde mich als fit bezeichnen, aber das war heftig." Um den Kopf des Ertrinkenden über Wasser zu halten, muss er selber über viele Meter untertauchen. Er schafft es. Irgendwie.
Dietmar Kraatz ist jetzt an Land. Was aber nun? Sein Retter erinnert sich, dass er mal gehört hat: "In einem solchen Fall nicht gleich mit Mund-zu-Mund-Beatmung beginnen, erst muss das Wasser aus der Luftröhre raus." Also schlägt er dem Leblosen mit der Faust auf den Solarplexus. Sofort tritt Wasser aus der Lunge. Danach beginnt der Retter mit der Herzdruckmassage bei dem klinisch toten Patienten. Der 28-Jährige pumpt, solange es seine Kräfte zulassen.
Arzthelferin greift mit ein
Andere Besucher der Kieswäsch haben unterdessen mitbekommen, was passiert ist, und organisieren parallel und bilderbuchmäßig die Rettungskette: Einer ruft den Krankenwagen, ein anderer nimmt die Retter in
Empfang. Doch was ist bis dahin? "Ich weiß noch, wie ich ein Stoßgebet zum Himmel schickte: Lass' jemand da sein, der weiß, was man jetzt Richtiges tun muss." Der Thurnauer faltet beim Erzählen die Hände. Ihm kommt Maria Reinhold zu Hilfe. Sie ist Arzthelferin und übernimmt, bis der Krankenwagen eintrifft. Dietmar Kraatz hat da einen flachen Puls. Es ist noch Leben in ihm. Oder besser gesagt: wieder.
Zu der Gruppe, die sich um den Mann am Boden kümmert, gehört noch eine Ärztin: Silvia Kraatz, die Tochter des Verunglückten. Sie arbeitet in einer Berliner Klinik. Tags zuvor erst war sie von einem siebenwöchigen Aufenthalt von den Philippinen zurückgekehrt.
Sie hat sich in ihrem Urlaub auf der Insel Cebu freiwillig um die Ärmsten der Armen gekümmert.
Philippinische Wurzeln
Zufall? Christian Landendörfer, der Retter ihres Vaters, ist Halb-Philippino, mütterlicherseits. Deren Angehörige leben noch größtenteils auf der Insel Cebu. Der Gerettete, Dietmar Kraatz, hat als Wasserbau-Ingenieur in aller Welt Projekte für die Weltbank und die UNO in der Entwicklungshilfe betreut. Viele Male war er auch im Einsatz auf den Philippinen, hat geholfen, Leitungen und Kanäle zu bauen.
Spätestens ab hier glaubt Christian Landendörfer nicht mehr an Zufall. "Mir kommt es vor, als ob Dietmars Rettung wie ein Dankeschön war für das, was er und seine Tochter an Gutem für das Volk auf den Philippinen bewirkt haben." Der 28-Jährige wird für einen Moment ganz still. "Ich glaube, dass es so ist.
Es mag komisch klingen..."
Dann erzählt er, wie er zwei Tage nach den dramatischen Ereignissen zufällig erfährt, dass der Mann von der Kieswäsch offenbar im Koma liegt. "Ich hatte den Drang, ihn zu besuchen." Im Kulmbacher Klinikum auf der Intensivstation wird er jedoch nicht zu ihm vorgelassen. "Klar, ich bin ja kein Angehöriger." Zufällig hat eine philippinische (!) Krankenschwester, die der Thurnauer kennt, zu diesem Zeitpunkt Dienst. Sie informiert die Familie des Patienten und stellt den Kontakt her.
Kurz darauf schließen Tochter und Ehefrau den Retter in die Arme. Sie sagt: "Wir hatten schon überlegt, wie wir ihn ausfindig machen können. Plötzlich steht er da vor uns. Es kann nicht hoch genug gewürdigt werden, was er vollbracht hat. Wir sind unserem Helden unendlich dankbar, werden uns erkenntlich zeigen und hoffen auf eine Auszeichnung als Lebensretter!" Retter und Geretteter kommen am Krankenbett zusammen.
Dietmar Kraatz ist klinisch tot gewesen, nun liegt er im Koma. Sein Zustand ist kritisch. Inwiefern er mitbekommt, was um ihn herum vor sich geht? Christian Landendörfer packt seine Ukulele aus. Er spielt "Somewhere over the rainbow" in der Version des Hawaiianers Israel Kamakawiwo Ole. "Eines meiner Lieblingslieder." Und - zufällig - auch eines von Dietmar Kraatz. Der Mann, der seit vielen Stunden keine willentlich beeinflusste Regung gezeigt hat, bewegt unter der Bettdecke seine Füße. Ein Wippen. Als vollführe er einen Tanzschritt. Er tanzt gerne.
Erster Schritt ins Bewusstsein
Es sollte der erste Schritt sein zurück ins Bewusstsein. Dietmar Kraatz erwacht nach vier Tagen aus dem Tiefschlaf. Zunächst ist er noch stark verwirrt,
aber der Schleier in seinem Kopf lichtet sich zusehends. Der Patient kann sich bald wieder halbwegs artikulieren.
Die Chancen auf vollständige Genesung stehen trotz einiger Vorerkrankungen gut. Nur die Erinnerung an die Zeit im Wasser, seine Rettung, die Reanimation, den Weg ins Krankenhaus: Das ist wie ausradiert.
"Ich weiß noch, dass ich wie immer an der gleichen Stelle ins Wasser bin und Richtung Insel schwamm. An manchen Stellen dort kann man stehen, da betrachte ich mir dann immer die Natur." Dann, sagt Dietmar Kraatz, reißt der Film in seinem Kopf. Koma. Das langsame Erwachen folgt. Er schildert das so: "Da waren diese psychedelischen Bilder." Dinge hätten vor
seinem inneren Auge sonderbare Farben und Formen angenommen. "Dieses Gemenge sehe ich manchmal noch, wenn ich die Augen schließe." Und er hört diesen Song.
Dietmar Kraatz hebt die Hand, klatscht sich mit seinem Lebensretter am Krankenbett ab. Christian Landendörfer spielt noch einmal "Somewhere over the rainbow", der Patient wippt mit im Takt.
Ein Lied, das zwei Menschen vereint wie jene Rettungstat an der Kieswäsch.
Christian Landendörfers Leben hat sich durch seinen unglaublichen Einsatz verändert, wie er sagt: "Es fühlt sich an, als könnte man alles schaffen. Das macht stark." Stark wie ein Elefant. Wie Hathi, der Colonel der Elefantenbrigade aus dem "Dschungelbuch". Der talentierte Musiker mimt ihn derzeit auf der Naturbühne. Elefanten vergessen nichts, sagt man. Christian Landendörfer wird den 10. Juli nicht vergessen. Wie Dietmar Kraatz auch. Beiden hat dieser Freitag auf dramatische Weise einen neuen Freund beschert. Nur ein Zufall?
Eine zutiefst berührende und ergreifende Geschichte aus dem realen Leben. Sie gibt Mut und Hoffnung in einer von Grausamkeiten geprägten Welt. "Die großen Taten der Menschen sind nicht die, welche lärmen. Das Große geschieht so schlicht, wie das Rieseln des Wassers, das Fließen der Luft, das Wachsen des Getreides." Adalbert Stifter
Eine zutiefst berührende und ergreifende Geschichte aus dem realen Leben. Sie gibt Mut und Hoffnung in einer von Grausamkeiten geprägten Welt. "Die großen Taten der Menschen sind nicht die, welche lärmen. Das Große geschieht so schlicht, wie das Rieseln des Wassers, das Fließen der Luft, das Wachsen des Getreides." Adalbert Stifter