"Die Plätze sind rar. Die Reise nach Jerusalem kann beginnen." Damit wurden die Zuschauer begrüßt, die zu einer Aufführung ins Theaterfoyer gekommen waren.
Mit Narrenschellen am Stecken scheppert Wolfgang Martin durch die Kneipe. "Bitte eintreten zu wollen. Ich hoffe, ihr habt alle euren Stuhl mitgebracht. Die Plätze sind rar. Die Reise nach Jerusalem kann beginnen." Jemand schmeißt noch leere Walnussschalen auf den Boden, so dass es jedes Mal knackt, wenn jemand das Theater betritt.
"Die Wüste lebt e.V." tagt wieder. Wie jeden Donnerstag. Die Kneipe, das Theaterfoyer im Gewölbekeller des Alten Rathauses, hat sich gefüllt. Man hängt am selbstgebauten Tresen, besorgt sich zum Bier oder Wein den neuen Mitgliedsausweis. Eine Horde Stoff-Fledermäuse in der Ecke beobachtet das Ganze regungslos. Auch Luna geruhte zu erscheinen; im Gefolge Frauchen, das Mops-Hundedamen-Bett tragend.
18 Kunstbeflissene
Das Nebengewölbe, der Theatersaal, schafft es gerade so, an der einen langen Seite die 18 Kunstbeflissenen zu beherbergen.
Auf der anderen langen Seite die Bretter, die die Welt bedeuten. Versehen mit einstmals edlem Teppich. Die lebensgroße Figur auf der rechten Seite könnte die Statue einer der Musen darstellen, wäre sie nicht gar so auffällig als Schaufensterpuppe zu erkennen. Blaue Neonleuchten am Fußboden lassen die Bruchsteine des Gewölbes besonders plastisch erscheinen.
278 Damen hätten sich beworben. Die ersten vier seinen für diesen Donnerstag Abend in die Katakomben des Alten Rathauses zum Casting eingeladen worden, lügt Wolfgang Martin in seiner Anmoderation. Die Zuschauer schärfen ihre Aufmerksamkeit, denn sie werden die Jury sein.
Rosi aus Rosenheim macht den Auftakt. Sie sei an sich exotische Tänzerin. Nein, nicht erotische: exotische! Und sie würde auch ein Instrument spielen. Das war eigentlich gegen die Ausschreibung zum Casting. Aber man lässt sie dennoch gewähren.
So rennt sie nochmals Backstage in die Umkleide und erscheint mit einem billigen Schlafoverall nebst ebenso billiger Blockflöte, kommt bei ihrem Schönheitstanz und gleichzeitigem Abstreifen des Overalls schicksalhaft ins Straucheln. Man würde sich wegen des Casting-Ergebnisses bei ihr melden, lautete das feige Urteil der Jury.
Mit dem Zug direkt von Russland bis Untersteinach ist die nächste Kandidatin angereist: Olga. Sie ist Sängerin, eine Studienkollegin der Netrebko, verkündet sie beiläufig bedeutungsvoll. Wohlwollend kann man ihr diese Ausbildung abnehmen. Ganz Operndiva steigert sie sich schließlich mittels Bekleidungswechsel in eine Szene, die man landläufig als die einer Domina bezeichnen würde.
Als nächstes Jackie. Ihr ging der Ruf voraus, sie sei aus Pennsilvania, USA. Ehrlicherweise korrigiert sie das: Aus dem Knast. Zwei Jahre. Sie hätte sich botanisch betätigt.
Mit ein paar Pflanzungen in ihrem Gewächshaus. Von so einem Provinzpolizisten sei sie deswegen verhaftet worden und erkennt eben diesen in der hinteren Zuschauerreihe, pflaumt ihn wüst an, woraus man schließen kann, dass ihre Resozialisation noch nicht abgeschlossen ist. Las-Vegas-mäßig bietet sie dann aber eine Nummer mit Klasse.
Sängerin und Tierdarstellerin
Schließlich Monika aus Südbayern. Künstlerinnenname Mona. Darauf legt sie Wert. Sie ist Sängerin, und sie ist Tierdarstellerin. Beides gleichzeitg. Und Metzgerstochter. Proben aus dem väterlichen Handwerksbetrieb reicht sie auf einem Teller herum, was Wolfgang Martin auf den Plan ruft, der gegen diese unerlaubte Schleichwerbung vorgehen muss. Monas Gesang ist nicht schlecht, die Wurst auch. Vielleicht etwas scharf, die Wurst.
Mona auch.
Im Ernst: Ingrit Gabriel bot eine gekonnte ironische bis zynische Show mit ganz unterschiedlichen Charakteren. Ihre Figuren wirkten (absichtlich) unfertig - Möchtegern-Stars, die es halt mal versuchen. Neudeutsch: eine trashy performance. Der größte Teil der Texte war improvisiert. Der Gesang ausgesprochen gekonnt.
Den Kulturverein "Die Wüste lebt" gibt es seit 2008 als eingetragenen Verein. Wolfgang Martin und andere haben ihn ins Leben gerufen. Der Name stammt von einem Disney-Film, der zeigt, dass auch dort, wo man Leben nicht erwartet, in der Wüste, es dennoch vielfältig vorhanden ist. "Genau dieses Potenzial schlummert auch im gesellschaftlichen und kulturellen Leben auf dem Lande, das oftmals zu eintönig, festgefahren und ohne Zukunft erscheint", bekennt der Verein. Der Umgang miteinander ist ausgesprochen freundschaftlich und locker.
Die beiden Räume im Gewölbe unter dem Alten Rathaus (Kulmbacher Straße 1) erinnern an die kleinen Kellertheater, die es früher viele in Berlin gab, deren Atmosphäre man selbst erleben muss: Jeden Donnerstag ab 21 Uhr. Es kann auch später werden. Näheres im Internet unter
diewuestelebt.net.