Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth verlangte ein ansprechendes Rathaus für die ehemalige Residenzstadt Kulmbach. Am 10. März 1749 fuhr eine Abordnung zu weiteren Verhandlungen nach Bayreuth, nur dort wollte keiner verhandeln. Saint-Pierre war so von sich überzeugt, dass er sich von den Kulmbachern nicht umstimmen ließ. Allerdings erwiesen sich schließlich die "nicht dienstlichen Beziehungen" als effektiver als der offizielle Dienstweg.
Den Braten gerochen
So wurde Markgraf Friedrich von Brandenburg-Bayreuth im Dezember 1749, als er zu einer Wildschweinjagd in Kulmbach weilte, auf den Rathausbau angesprochen. Zwar fanden die Pläne von Hoffmann oder Gräf auch diesmal keine Gnade, jedoch erbot sich Saint-Pierre, einen eigenen Plan zu erstellen. Er erklärte, dass er sich dann sicher sei, dass die hochfürstliche Genehmigung komme. Er ließ dabei erkennen, dass er voraussetzte, dass man "seine Bemühung nicht umsonst verlange".
Der Kulmbacher Bürgermeister roch den Braten und schmiedete das Eisen, solange es noch heiß war. Mit einem Boten ließ er das Geforderte nach Bayreuth bringen, und zwar über einen befreundeten Mittelsmann. Und siehe da, bereits am 28. Dezember 1749, also kaum zwei Wochen später, traf der Plan mit der markgräflichen Genehmigung in Kulmbach ein.
Joseph Saint-Pierre (um 1709 bis 21. Juli 1754) arbeitete ab 1743 am Hof des Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth und seiner Frau Wilhelmine in Bayreuth.Die Neugestaltung des Stadtbilds von Bayreuth Mitte des 18. Jahrhunderts ist wesentlich auf seine Bautätigkeit zurückzuführen.
Weitere Bauten, an denen er beteiligt war, sind die Eremitage, Sanspareil, das Markgräfliche Opernhaus, die Reithalle in der Ludwigstraße (heute Stadthalle), das Hospital, die Spitalkirche und das Neue Schloss samt Schlosskirche.
Ende Oktober 1751 war der Bau des neuen Kulmbacher Rathauses so weit fortgeschritten, dass der im Plan Saint-Pierres eingezeichnete Figurenschmuck bestellt werden konnte. Es waren zwei Frauengestalten, die Göttinnen der Weisheit und der Gerechtigkeit darstellend, zwei Rocaille Vasen und ein Adler für die Turmspitze. Heute befindet sich dort eine weitere Vase.
Darstellung ohne Augenbinde
Diese Arbeiten übertrug man dem Bayreuther Kunstbildhauer Johann Friedrich Fischer (1708 - 1761). Die Figur der Weisheit (Prudentia) hält ein Buch in ihren Händen, sie gilt als die wichtigste der Tugenden und ist die Voraussetzung für alles Tun. Die Darstellung der Gerechtigkeit (Justitia) hält in der einen Hand die Waage (alle Entscheidungen abwägen) und in der anderen das Schwert (Urteile fällen). Ihre Darstellung am Kulmbacher Rathaus zeigt sie ohne Augenbinde. Oft wird sie allerdings damit dargestellt, weil sie unparteilich richten sollte, ohne Ansehen der Person.
Am Ende der ersten Sitzung im Jahr 1752 schrieb der Ratsschreiber über das neue Rathaus: "Und endlich ist dies der Ort, wo Gerechtigkeit, Friede, Liebe und Einigkeit wohnen, bis dass rund des Erdkreises alles über unserem Scheitel zusammenfallen wird." So hatte er den Hauch des Ewigen, das im neuerstandenen Rathaus seinen Ausdruck suchte, verspürt.
Erweiterung und Modernisierung
1895 reichte der vorhandene Platz im Rathaus nicht mehr aus. Die Stadt entschloss sich für einen dreigeschossigen Erweiterungsbau in Richtung der Oberen Stadt. Er wurde im Stil des Neubarock errichtet. Die barocke Podest-Anlage wurde ausgebaut, um an ihrer Stelle in allen drei Etagen die Durchgänge vom historischen Bauwerk zum Neubau zu ermöglichen.
1960 erfolgte eine zeitgemäße Modernisierung im Treppenhaus durch den Einbau von Glasbausteinfenstern und die Umgestaltung der Wand zum Rathaus mit moderner Tür und Sgraffito. Diese besondere Dekoration befindet sich heute hinter einer weißen Wand.
2011 und 2012 erfolgte eine Generalsanierung. Das altehrwürdige Rathaus wurde energetisch auf den neuesten Stand gebracht und barrierefrei umgebaut. So entstanden hochmoderne Arbeitsplätze in einem Denkmal von nationaler Bedeutung. Und die beiden Frauenfiguren Prudentia und Justitia wachen immer noch über kluge und gerechte Entscheidungen ...