Der Kulmbacher Polizeichef Hans Schiffner hat einem verbrecherischen Regime gedient, Beschlagnahmungen veranlasst und Hitler-Gegner in "Schutzhaft" genommen. Und dennoch: Er war ein glaubensfester Mann, der viele Juden vor noch Schlimmerem bewahrt hat.
Erste Szene: Der Viehhändler Nathan Flörsheim will auf dem Kulmbacher Wochenmarkt Gemüse kaufen. Ortsgruppenleiter Miller fährt dazwischen: "Der Stinkjude soll woanders kaufen!" Hans Schiffer, der dazu stößt, holt den beleidigten Mann an den Stand zurück: "Sie haben dasselbe Recht hier zu kaufen, wie jeder andere."
Zweite Szene: Im Juni 1933 werden die Gewerkschaftsfunktionäre Adolf Drechsel, Fritz Fischer und Martin Hoffmann und der jüdische Kaufmann Georg Davidsohn verhaftet. Sie sollen ins KZ Dachau überführt werden. Schiffner interveniert erfolgreich bei der Kulmbacher Kreisleitung, davon abzusehen.
Dritte Szene: Abraham Kriegel, Vorstandsmitglied der Reichelbräu, soll im August 1933 wegen Devisenvergehen ausgebürgert werden.
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Schiffner hilft mit, Policen zu besorgen, die die Vorwürfe als unbegründet erweisen.
Bloße Persilscheine? Drei Auszüge aus eidesstattlichen Erklärungen der Betroffenen in der Zeit der Entnazifizierung. Verklärung? Makulatur? "Persilscheine", wie sie auch von jedem Nazi-Bonzen massenweise vorgelegt werden? Die sehchsköpfige Spruchkammer unter Vorsitz von Karl Jung erklärt am 29. Mai 1947 Schiffner zum "Mitläufer". Zwar sei er im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten, und zeitweise auch Mitglied in der SA gewesen, doch Aktivist oder Militarist sei er niemals gewesen. Wegen der glaubhaften Entlastung durch viele politisch und rassisch Verfolgte "könne man aktiven Widerstand gegenüber nationalsozialistische Anordnungen durchaus ableiten".
Die US-Militäradministration hält den Urteilsspruch für zu milde, verzichtet jedoch auf Revision.
Offensichtlich hält Resident Officer Major Kauffmann die vorausgegangenen Sanktionen - neunmonatige Haft im Internierungslager Hammelburg und die Einstellung der Pension (die Wiederaufnahme erfolgt Februar 1948) - für ausreichend.
Pflicht und Dienst Spruchkammer-Urteile sind nicht selten dubios, manchmal hanebüchen. Für die wirkliche Gesinnung und den Charakter eines Menschen geben sie selten etwas her. Was heute bei Durchsicht von Schiffners Nachlass, auffällt, ist sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein. Es mag sich aus seiner Herkunft erklären. Als ältestes von neun Kindern einer ärmlichen Porzellan-Arbeiterfamilie in Tettau (Landkreis Kronach) ist er früh verpflichtet, seinen jüngeren Geschwistern beistehen und zum Erwerb der Familie beizutragen.
Bei Kriegsausbruch im August 1914 - Hans Schiffner ist zu diesem Zeitpunkt 32 und acht Jahre bei der Polizei in
Kulmbach - meldet er sich freiwillig an die Front. Es ist ihm patriotische Pflicht, das Vaterland zu verteidigen. Schon bei seinem ersten Kampfeinsatz bei Ypern wird er schwer verwundet. Im Kulmbacher Stadtarchiv findet sich eine Feldpostkarte, die er am 12. November 1914 aus dem Hospital in Koblenz an seinen Kulmbacher Dienstherrn, Bürgermeister Wilhelm Flessa, richtet. Auffallend ist die grobe Verharmlosung: Denn obwohl die Amputation des Unterschenkels droht, spricht er von einem "schon wieder sehr guten Zustand". Er hoffe, "in absehbarer Zeit seinen Dienst wieder aufnehmen zu können."
"Mit den Wölfen heulen" Nach dem Krieg, 1919, schließt sich Schiffner einer Gruppierung an, die auf einen demokratischen Neubeginn und soziale Verantwortung setzt - der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei.
Hängt er seine Gesinnung nach Hitlers Machtergreifung 1933 an den Nagel?
Ludwig Crößmann, sein ehemaliger DDP-Parteifreund, berichtet 1945, wie Schiffner unter dem Konflikt, seinen Dienst gemäß seines Eides unparteiisch zu verrichten und der Loyalität gegenüber den braunen Machthabern gelitten hat. Immer wieder habe er an Rücktritt gedacht, doch "er mußte des Broterwerbs willen mit den Wölfen heulen."
Schiffner nutzt geringe Spielräume: Unter vier Augen macht er jüdische Mitbürger auf anstehende Hausdurchsuchungen aufmerksam, verfolgt Denunziationen gegen sie nicht weiter, erwirkt bei der Parteileitung die Rücknahme von Haftbefehlen, schützt sie vor dem Zugriff der Gestapo, indem er sie als nicht transportfähig im Krankenhaus belässt.
Ein höchst riskantes Vorgehen, das, wäre er aufgeflogen, ihn mit Sicherheit ins Konzentrationslager gebracht hätte.
Mitglied der Bekennenden Kirche Woher dieser Mut, diese Kraft? Hans Schiffner ist ein gläubiger Mensch. Der Verlust zweier seiner insgesamt drei Söhne in ganz jungen Jahren mag dazu beigetragen haben. Am 10. Juli 1935 schließt er sich der "Bekennenden Kirche" an. Die Sektion versteht sich als die rechtmäßige evangelische Kirche im Deutschen Reich. Sie bezieht Stellung gegen die "Deutschen Christen", die sich der NS-Ideologie verschrieben haben. Die führenden Vertreter der BK wie Karl Barth, Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer prangern KZs, die Ermordung von Geisteskranken und Verfolgung und Vernichtung von Juden als widergöttliches Unrecht an.
Der Beitritt Schiffners ist ein Schlag ins Gesicht der hiesigen Parteileitung.
Immer wieder legt man ihm die Rücknahme nahe, ebenso einen Austritt aus der Kirche. Schiffner bleibt bei seiner Entscheidung.
Ein Freund fürs Überleben "Wenn es einen Nobelpreis für Menschlichkeit gäbe, dann müsste dieser an diesen vorbildlichen Mann und Menschen mit Herz vergeben werden". So äußert sich Georg Goldzweig am 22. September 1959 in einem Interview, als er knapp 20 Jahre nach Vertreibung mit seiner Frau Ruth (Tochter von Franz Weiß, Spitalgasse 2) erstmals den Boden seiner alten Heimat betritt. Die Goldzweigs sehen sich als Sprecher der anderen Kulmbacher Familien - Flörsheim, Strauß, Wortmann - die in New York Fuß gefasst haben.
Das Ehepaar besucht die Familie Schiffner bis ins hohe Alter alljährlich, auch über den Tod Hans Schiffners im März 1971 hinaus.
Bei ihrem Besuch im September 1982 trägt Georg Goldzweig eine rührende Widmung in das Gästebuch von Edith und Fritz Schiffner ein: "In treuem Gedenken an Euren lieben Vater, der die Freundschaft zwischen unserer Familie in der Zeit, wo wir keine Freunde hatten, aufrecht erhielt."
Interview: "Anständig und ernst"BR-Mitarbeiter Wolfgang Schoberth sprach mit Edith Schiffner über ihren Schwiegervater Hans Schiffner
Frau Schiffer, Ihr Schwiegervater hat vielen Juden geholfen. Welches Motiv hat er gehabt?
Edith Schiffner: Ich denke, es war seine Verwurzelung im christlichen Glauben. Er war im Kern ein sehr ernster Mensch. Regelmäßig hat er sich in die Bibel vertieft und Randbemerkungen gemacht. Einmal wöchentlich hat er sich bei uns mit Pfarrer Alfred Rieß getroffen.
Jahrelang war er Mitglied im Kirchenvorstand der Petrikirche. Seine Enkel hat er immer wieder zum Kirchgang angehalten. Als er selber nicht mehr konnte, hat er die Gottesdienste im Radio verfolgt.
Hat er von der NS-Zeit erzählt?Niemals. Als die Goldzweigs erstmals bei uns in der Hans-Planck-Straße zu Besuch waren, war ich bass erstaunt. Ich hatte keine Ahnung über die Hintergründe.
Hat Ihr Schwiegervater Kontakt mit früheren Bekannten gehabt?
Nein. Er hat in den Nachkriegszeit bis zu seinem Tod 1971 sehr häuslich gelebt. Am liebsten war ihm der Garten. Nie hat er ein Wirtshaus besucht, auch in die Stadt ist er nur selten.
Reisen hat er keine gemacht, nur zu seinen Verwandten nach Tettau ist er ab und zu.
Was war er für eine Persönlichkeit?Durch seine Größe war er eine markante Erscheinung, doch Angst hat er keinem eingeflößt. Er war umgänglich, eine Respektsperson, doch überhaupt nicht autoritär. Ich bin keinem begegnet, der ihn nicht als anständig bezeichnet hätte.
Auschwitztag am 27. JanuarDie Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 jährt sich heuer zum 70. Mal. Die Vereinten Nationen erklärten den Tag 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
Ein Jahr später wird er auf Initiative des Bundespräsidenten Roman Herzog zu einem offiziellen Gedenktag in Deutschland.
Feier abgesagt Die diesjährige Feier in Auschwitz steht im Zeichen diplomatischer Auseinandersetzungen: Wegen der russischen Militäraktion in der Ost-Ukraine hat Warschau die offizielle Regierungsfeier abgesagt. An ihrer Stelle richtet das staatliche Museum von Auschwitz-Birkenau die Gedenkfeier aus, zu der auch und die letzten Überlebenden des Lagers erwartet werden. Kreml-Chef Wladimir Putin ist bei der Feier demonstrativ nicht eingeladen worden.
15 jüdische Familien Auch in Kulmbach besteht Anlass, an die in der NS-Zeit aus Glaubensgründen Verfolgten zu erinnern. Zu Hitlers Machtergreifung leben 15 jüdische Familien mit insgesamt 43 Personen in Kulmbach.
Dem größeren Teil gelingt die Ausreise in die USA. Zehn von ihnen kommen in den Vernichtungslagern von Theresienstadt, Krasniczyn und Auschwitz um. Franz Weiß, der Vater von Ruth Goldzweig, wird am 16. Februar 1941 Opfer der deutschen Bombenangriffe auf London.
W.S.