Ein aussagestarkes Bild aus dem Jahr 1929 stimmt nachdenklich: Mit dem Handwagen holte Johann Günther aus Stockheim einst die Milch in Posseck.
Wir schreiben das Jahr 1929. Damals, im Frühjahr vor 90 Jahren, hielt ein unbekannter Fotograf den Stockheimer Frührentner Johann Günther, geboren am 2. Juli 1859, gestorben 1946, im Bild fest. Zu sehen sind außerdem sein Handwagen und drei große Milchkannen. Gut sichtbar im Hintergrund ist die riesige Abraumhalde des 1911 stillgelegten Steinkohlebergwerks "Maxschacht".
Bei oberflächlicher Betrachtung ist es eines der üblichen Familienfotos aus der sogenannten guten alten Zeit. Und trotzdem besagt die Aufnahme sehr viel. Vor allem dann, wenn man die wirtschaftlich außerordentlich schwierigen Verhältnisse des Jahres 1929 Revue passieren lässt und Vergleiche mit 2019 zieht: Vor 90 Jahren dominierten Arbeitslosigkeit, Armut, Hoffnungslosigkeit und Nullperspektiven.
Eine respektable Leistung
Der damals 70 Jahre alte Johann Günther hat eine körperliche Leistung vollbracht, die man heute kaum mehr für möglich hält: Jeden Tag ist der Stockheimer mit seinem Wägelchen bei Wind und Wetter nach Posseck gelaufen, um dort Milch zu holen. In der ehemaligen Bergwerksgemeinde hat er sie dann verkauft. Bereits morgens um vier Uhr startete er, denn eine sehr unterschiedliche Strecke mit einem beachtlichen, kräftezehrenden Höhenanstieg musste bewältigt werden. Das waren dann, den Rückweg einbezogen, täglich an die 16 Kilometer. Zweifellos eine respektable Leistung, und das bei schlechten Wegverhältnissen. Für die autoverwöhnten Bürger des 21. Jahrhunderts ist dieser mühevolle Einsatz wohl kaum mehr nachvollziehbar.
Johann Günther, der sich zu seiner schmalen Rente noch ein paar Pfennige hinzuverdienen musste, hat diese jahrelangen Strapazen trotzdem gut verkraftet. 87 Jahre ist er alt geworden, und sicherlich war er auch zufrieden mit seinem Los.
Weltuntergangsszenario
Und noch etwas: Als diese Aufnahme entstanden war, stand es nicht gut um Europa und Amerika. Dem Ersten Weltkrieg folgte 1923 die verheerende Superinflation, die alle Ersparnisse der "kleinen Leute" auffraß. Nur die Reichen wurden reicher. Die Konsolidierung der 20er Jahre war nur von kurzer Dauer. Kriegsschuldendienst, Reparationszahlungen, maßlose Kreditgewährung durch die USA und Überspekulation bildeten ein unentwirrbares Knäuel. Der Aktiensturz an der New Yorker Börse 1929 - innerhalb von zwei Stunden verlor der Dow Jones elf Milliarden US-Dollar - leitete weltweit wirtschaftliche und politische Krisen ein. Mit schlimmen Folgen, wie sich herausstellte.
Die Millionenheere der Arbeitslosen konnten nicht, wie einst in Notzeiten ihrer Vorfahren, auswandern. Sie waren der Radikalisierung preisgegeben und wurden das willfährige Objekt politischer Abenteurer. Der große Börsenkrach an der Wallstreet am 24. Oktober 1929 ist in die Geschichte als "Schwarzer Freitag" eingegangen. Die Sogwirkung war furchtbar und führte letztlich für die Deutschen mit Adolf Hitler in die "totale Katastrophe".
Bedauerlicherweise hat die globale Finanzwelt aus dem Börsenkrach von 1929 nichts gelernt: Damals wie heute hat eine grenzenlose Geldgier, hat die ungezügelte Spekulation die Wirtschaftssysteme an den Rand des Abgrunds katapultiert. Damals wie heute verkommt der Kapitalismus zum Spielkasino für Zocker. Die "Nieten in Nadelstreifen" haben stets ganze Arbeit geleistet und viele Sparer zur Verzweiflung gebracht.