Zerstörtes Paradies

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Helfer auf zwei Rädern: Mit dem Moped, das den Sturm zum Glück unbeschadet überlebt hat, und etlichen Medikamenten im Gepäck fuhren Mary Ann und Norbert Gresser über die Insel, um dort den Verletzten zu helfen.Fotos: Gresser
Helfer auf zwei Rädern: Mit dem Moped, das den Sturm zum Glück unbeschadet überlebt hat, und etlichen Medikamenten im Gepäck fuhren Mary Ann und Norbert Gresser über die Insel, um dort den Verletzten zu helfen.Fotos: Gresser
Spur der Verwüstung: Kaum eine Hütte hat den Wirbelsturm unbeschadet überstanden.
Spur der Verwüstung: Kaum eine Hütte hat den Wirbelsturm unbeschadet überstanden.
 

Als Ersthelfer auf den Philippinen boten sich dem Ehepaar Gresser furchtbare Bilder.

Es ist stockdunkel. Mitten in der Nacht. Der Strom ist ausgefallen. Nicht mal die Hand vor Augen lässt sich erkennen. Die Menschen können nur hören. Und was sie hören, ist schrecklich. Wenn Mary Ann Gresser die Situation schildert, in der sich ihre Verwandten am 8. November befunden haben, bebt ihre Stimme. Sie erzählt vom Wirbelsturm "Yolanda", der nachts um 4.30 Uhr ihre Heimat auf Calicoan Island auf den Philippinen heimsuchte - und sie von da an eine Woche lang in Ungewissheit über ihre Liebsten ließ.

Mary Ann Gresser lebt mit ihrem Mann Norbert und ihren beiden Kindern in Deutschland. Ihr Mann ist Leiter der Sozialstation Medicare in Fröhstockheim und erfahrener Anästhesie- und Intensivmediziner. Schon seit 1999 ist er öfters in Krisengebieten im Einsatz.
Dass es diesmal nicht anders sein würde, stand für den Oberscheinfelder sofort außer Frage, als er die ersten Nachrichten über das Ausmaß der Taifun-Katastrophe hörte. "In den kleinsten Dörfern kommt nichts an, wenn man nichts hinbringt", weiß er.

Und tatsächlich. Als er und seine Frau sieben Tage später auf Calicoan Island ankommen, sind sie die ersten Hilfskräfte vor Ort. Die Menschen sind hungrig, haben seit Tagen nichts gegessen. Viele sind verwundet.
Das Hintergrundbild auf Norbert Gressers Laptop zeigt einen Strand und Palmen - Urlaubsidylle. "Es erinnert mich daran, wie es einmal war", sagt er - und dann klickt er auf den Ordner mit den aktuellen Fotos. Aus Urlaub wird Horror. Aus grüner Natur braune Trümmer. Nichts ist mehr so, wie es das Ehepaar noch aus seinem letzten Aufenthalt im August in Erinnerung hat. Der Wirbelsturm hat alles verwüstet. Die meisten Häuser sind eingestürzt, fast alle Bäume eingeknickt. Überall liegen Trümmer. Fische sind hunderte Meter aus dem Meer auf den nun doppelt so breiten Strand geschleudert worden und verendet. Die Menschen auf der Insel haben ihre Lebensgrundlage verloren. Die Palmen im Dschungel tragen keine Kokusnüsse mehr, die große Fischzucht ist zerstört, nichts erinnert mehr an die Surfschule, die einst am am Ufer stand.

Ihre Familienangehörigen leben. Mary Ann Gresser fiel ein Stein vom Herzen, als sie ihre Heimatinsel betrat. Am 7. November in den Abendstunden war der Kontakt abgebrochen. Überlebt haben sie vermutlich nur, weil sie sich durch die rechteckige Aussparung einer Klimaanlage aus ihrer Holzhütte in das gemauerte Haus von Mary Ann und Norbert Gresser hinübergerettet haben. "Meine Schwägerin ist nicht die Dünnste, aber die Angst hat auch sie durch das Loch passen lassen", erzählt die Philippinin. Sogar im Steinhaus haben ihre Familienangehörigen von innen gegen die Wände gedrückt - aus Angst, diese könnten einstürzen.

Als am Morgen die Sonne aufging, wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar: Von der Holzhütte war keine Spur mehr zu sehen. Sturmböen mit bis zu 380 km/h hatten sie wie vieles andere mitgerissen.

Wellbleche wurden zu Rasierklingen

Norbert Gresser und seine Frau begannen nach ihrem Eintreffen sofort mit der Wundversorgung. "Eigentlich kann ich kein Blut sehen, aber in der Situation willst du einfach nur helfen", erzählt Mary Ann, den Tränen nah. Von Zuhause hatten sie alle wichtigen medizinischen Utensilien mitgebracht. "Wunden nähen, Antibiotika verabreichen, sogar Narkosen - das alles war kein Problem", berichtet Norbert Gresser. Wellbleche waren wie Rasierklingen durch die Luft geflogen, sogar schwere Stahlträger hatte der Wind mit sich gerissen.

Neben tiefen Schnittwunden hatte Gresser es auch mit Amputationen zu tun. Er gab Ampullen gegen Dehydration oder Hilfe für hustende Menschen, die zu viel Sand in die Lunge bekommen hatten. Aus einer PET-Flasche bastelte Gresser einem kleinen Mädchen einen Schutzverband - ihr Auge wird sie vermutlich dennoch verlieren.
Zu Beginn galt es, sich einen Überblick über die Lage vor Ort zu verschaffen. Wie viele Tote gibt es? Welche Verletzungen? Wie ist die Versorgung mit Essen und Trinken zu gewährleisten? Über ein mitgebrachtes Satellitentelefon vernetzten sich die Gressers mit anderen Hilfsorganisationen.

Die Hilfsgüter nach Calicoan zu schaffen, war ein Projekt für sich. Schon in Deutschland ließ Gresser seine Kontakte spielen, traf auf viele Unterstützer - allein das Missionsärztliche Institut in Würzburg versorgte ihn mit Medikamenten im Wert von etwa 3000 Euro. Auch ein Zahnbürsten-Großeinkauf fand im Vorfeld statt. "Die Kassiererin hat ganz schön gestaunt", erzählt Mary Ann Gresser lächelnd.

Auf dem Frankfurter Flughafen drückte die Dame am Kofferband ein Auge zu, was das Übergepäck anging, und so kamen die Frachtkosten für 96 Kilogramm am Ende auf "nur" 400 Euro. In Manila angekommen, wartete schon Mary Anns die Mutter mit zig Säcken voller Reis und Folien zum Abdichten der beschädigten Häuser. Das Geld für den Großeinkauf hatten die Gressers ihr im Vorfeld überwiesen.

Als richtig schwierig entpuppte sich dann die Fahrt nach Calicoan Island. Zwar war schnell ein Bus geordert, doch den Gressers kamen Berichte von Überfällen auf Hilfstransporte zu Ohren. "Die Leute hatten halt Hunger", zeigt Gresser sogar noch Verständnis. Er kam auf die Idee, einige Bürger Manilas zum Schutz als "Transportbegleiter" zu organisieren. Zusätzlich schnürten sie kleine Pakete, die sie am Wegesrand gegebenenfalls "als Wegzoll" abgeben konnten. Nach Polizeikontrollen und dem Passieren etlicher Checkpoints erreichte der grüne Hilfsbus nach zwei Tagen die Fähre zur Insel.

Elf Tage blieben die Gressers dort. In den ersten vier Tagen versorgten sie über 160 Personen. 27 Menschen kostete "Yolanda" auf der Insel das Leben.

Schon im Januar wollen die Oberscheinfelder erneut auf die Philippinen fliegen. Dann geht es an den Wiederaufbau. Ein temporärer Schulraum mit sanitären Einrichtungen ist das Ziel. Im Steinhaus der Gressers wohnen aktuell zehn bis zwölf Personen auf engstem Raum. Strom gibt es noch keinen. "Man darf dort nicht nur hinfahren, wenn es schön ist, sondern auch, wenn es die Leute dort nicht schön haben", sagt Norbert Gresser.



Der Sturm und die Folgen

Seit 6. November gab es auf den Philippinen Warnungen für einen Taifun. Zwei Tage später schlug "Yolanda" voller Gewalt und mit unglaublichen 380 km/h aufs Festland auf. Insgesamt waren 9,8 Millionen Menschen von der Katastrophe betroffen, es gab 5000 Tote.

Calicoan Island, der Heimatort von Mary Ann Gresser, liegt in der 50000 Einwohner zählenden Region Guiuan. Hier wurden die 8000 Euro Soforthilfe von Mary Ann und Norbert Gresser eingesetzt und etwa 10000 Menschen mit medizinischer Hilfe und Nahrungsmitteln versorgt. Es gibt ein Spendenkonto für all die, die das Ehepaar bei seinen weiteren Arbeiten unterstützen möchten: Humanitäre Hilfe Landsberg e.V., Konto-Nr 306704000, BLZ 70091600, Betreff: Hilfe für Samar.