Die Stimmung im Kloster ist mittlerweile gedrückt, das Lächeln ist aus den Gesichtern verschwunden. Alle sechs Jugendliche scheinen in Gedanken wieder in jenen ungewissen und schrecklichen Wochen und Monaten zu sein. Wie sie es schaffen, damit umzugehen? „Wir achten sehr aufeinander“, sagt Mihretab. „Wenn wir sehen, dass einer von uns mit gesenktem Kopf da sitzt, dann gehen wir hin und sagen: 'Es ist vorbei.'“
Mussie knetet seine Hände. Auch er möchte von seinen Erlebnissen erzählen. Von der Zeit in einem libyschen Flüchtlingslager. Etwa 400 von ihnen sei nahe Tripolis eingesperrt gewesen. „Im Ramadan war es besonders schlimm“, sagt er. „Die christlichen Flüchtlinge mussten sich in der Halle auf den Bauch legen. Von 20 Uhr bis 3 Uhr am Morgen. „Die Wächter liefen die ganze Zeit über uns hinweg“, erzählt Mussie. Danach sei es besser geworden. Immerhin hätte es am Morgen eine Flasche Wasser gegeben, abends eine Schüssel Reis. „Zum Essen gab es immer Peitschenhieben.“
Wer arbeiten konnte, wurde auf nahegelegene Farmen gebracht. Dort mussten sie schuften – das Geld behielt die Miliz, die das Lager führte. „Neben mir sind dreizehn Flüchtlinge an Schwäche gestorben“, erzählt Mussie. Das Perfide daran: Ab und zu seien sie fotografiert worden. „Wir wussten nicht warum.“ Später hätten sie erfahren, dass die Bilder an Hilfsorganisationen gingen, die mit ihnen um Spenden warben.
Schließlich hätten es die Menschen nicht mehr ausgehalten. Ein paar hundert seien geflohen. „Die Wächter haben ihre Waffen genommen. Dann haben sie sich verteilt und auf jeden geschossen, den sie gesehen haben.“ Nach diesem Vorfall sei das Lager geschlossen worden. „Die Überlebenden wurden an andere Schlepper verkauft.“
Während Mussie erzählt, umspielt ein Lächeln seinen Mund. Es ist das Lächeln eines Menschen, der mit seinen Gefühlen kämpft und versucht, sich nicht von ihnen übermannen zu lassen.
„Zum Essen gab es immer Peitschenhiebe.“
Mussie
Ob sie niemals daran gedacht hätten, einfach umzudrehen und nach Hause zurückzugehen? „Mein Ziel war es immer, nach vorne zu gehen und in Frieden zu leben“, erklärt Teklit. „Zuhause wartet nur noch das Gefängnis und Folter auf uns.“ Außerdem sei die Flucht teuer erkauft – nicht nur finanziell: Wenn die Behörden erfahren, dass ein Familienmitglied geflohen ist, würden die Eltern inhaftiert. Die Regierung versuche, Geld von ihnen zu erpressen. Erst nach Wochen oder Monaten kämen sie wieder frei.
Die Flucht hat Mussie, Teklit und die anderen verändert. Die Erinnerungen werden sie niemals loslassen. Etwas Positives haben sie dabei aber doch gelernt: „Alle haben einander geholfen – immer“, erzählt Mihretab. Auch jetzt noch teilen sie alles brüderlich. „Wenn ich etwas zu essen bekomme, dann gebe ich ganz automatisch etwas an die anderen ab“, sagt Dawit. „Dabei hat hier ja jeder selbst genug Essen.“
Nun wünschen sie sich ein möglichst normales Leben. Alle haben schon konkrete Pläne, was sie lernen wollen. Schreiner, Maurer, Gärtner. „Sie strengen sich sehr an, können schon gut Deutsch“, sagt Heinz Sanwald. „Jetzt liegt es auch an uns, ihnen zu helfen und den Schatz zu heben.“ Auch wenn das alles in diesem Moment sehr weit weg erscheint, so wollen die jungen Eritreer es doch schaffen. Unbedingt. Damit sie an einem anderen Weihnachten irgendwann glücklichere Geschichten erzählen können.