Fluchtgeschichten in Schwarzach

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Traurige Geschichten: Bei den Erzählungen von ihrer Flucht aus Eritrea verschwindet das Lächeln bei Mussie, Teklit, Dawit, Übersetzer Mehati, Mihretab, Filimon und Heinz Sanwald (von rechts vorne ...
Foto: Robert Wagner
Versunken: Die Wochen und Monate der Flucht werden die jungen Eritreer wohl nie vergessen können.
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Mehr als Worte: Die Anspannung ist den Jugendlichen deutlich anzusehen.
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Gemeinsames Spiel: Trotz ihrer Erlebnisse: Heinz Sanwald hat „Freundliche und lebensfrohe Jugendliche“ kennengelernt.
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Folter, Krankheit, Tod. Sechs Jugendliche aus Eritrea erzählen.

Es ist kurz vor Weihnachten im Benediktinerkloster Münsterschwarzach. Zeit der Besinnung. Zeit der Familie. Zeit der gemeinsamen Geschichten. Neben Mihretab und Filimon sitzen noch Dawit, Mussie, Teklit und Abdussalam (alle 17) um den runden Esstisch in der gemütlichen Stube. Sie spielen, hören Musik oder lesen. Und sie erzählen. Von den Wochen und Monaten auf der Flucht nach Europa. Von Folter, Hunger, Krankheit und Tod. Und von ihren Verwanden im fernen Eritrea.

„Wir wären fast verreckt.“
Teklit

„Viele Geschichten ähneln sich“, erklärt Heinz Sanwald, der sich im Auftrag des Landratsamtes um die unbegleiteten Minderjährigen im Kreis kümmert. Angst vor dem Militärdienst habe die meisten fortgetrieben. „Sie holen dich einfach ab, für unbestimmte Zeit“, erzählt Teklit. Man werde geschlagen, gequält, verliere jede Chance auf ein normales Leben. Ohne es mit ihren Eltern abzusprechen, machten sie sich auf, mit nicht mehr als der Kleidung an ihrem Leib.

„Man kann nichts mitnehmen. Wenn die Polizei sieht, dass man einen Rucksack dabei hat, wird man sofort eingesperrt“, erklärt Teklit.

Teklit erzählt, wie er über Äthiopien in den Sudan geflohen ist. Mit 16 anderen Jugendlichen auf einem Laster. „Der Laster hatte Betonteile geladen. Unter denen war noch etwa so viel Platz.“ Teklit hebt die Hände und hält sie etwa 30 Zentimeter auseinander. „Da haben wir eng an eng gelegen.“ Von etwa 1 Uhr Nachts bis 15 Uhr. „Wir haben keine Luft gekriegt, haben geschrien, geweint. Wir wären fast verreckt.“

Das wurde dem Fahrer zu viel. Mitten im Nirgendwo schmiss er die Flüchtlinge vom Laster und fuhr ohne sie weiter. Was folgte, ist eine lange Odyssee. Erst hielten sie einfache Bewohner auf. „Auch die haben Geld von uns erpresst“, erzählt Teklit.

Später habe sie eine Gruppe Schlepper aufgegriffen. Unterwegs wurden sie überfallen. Schüsse seien gefallen. Zusammen seien sie geflohen. Tagelang, ohne Essen. Dann habe die Schlepperbande sie eingeholt. Wieder seien Schüsse gefallen. „Wir wurden in ein Lager gebracht.“ Wie Vieh. Mehr seien sie für die Schlepper nicht gewesen.

Drei Monate saß Teklit in einem Lager an der sudanesischen Grenze fest. Schlepper erpressten Geld von seinen Verwandten. Erst dann durfte er gehen. Nachts, damit die Anwohner nichts merkten, ging es wieder mit einem Lkw los Richtung Libyen. Dann durch die Wüste, mit 30 Mann auf einem Pick-Up. „Wer runterfällt ist tot“, erzählt Teklit. „Überall liegen Leichen am Straßenrand.“ Dawit, Mussie und die anderen nicken traurig.

Die Stimmung im Kloster ist mittlerweile gedrückt, das Lächeln ist aus den Gesichtern verschwunden. Alle sechs Jugendliche scheinen in Gedanken wieder in jenen ungewissen und schrecklichen Wochen und Monaten zu sein. Wie sie es schaffen, damit umzugehen? „Wir achten sehr aufeinander“, sagt Mihretab. „Wenn wir sehen, dass einer von uns mit gesenktem Kopf da sitzt, dann gehen wir hin und sagen: 'Es ist vorbei.'“

Mussie knetet seine Hände. Auch er möchte von seinen Erlebnissen erzählen. Von der Zeit in einem libyschen Flüchtlingslager. Etwa 400 von ihnen sei nahe Tripolis eingesperrt gewesen. „Im Ramadan war es besonders schlimm“, sagt er. „Die christlichen Flüchtlinge mussten sich in der Halle auf den Bauch legen. Von 20 Uhr bis 3 Uhr am Morgen. „Die Wächter liefen die ganze Zeit über uns hinweg“, erzählt Mussie. Danach sei es besser geworden. Immerhin hätte es am Morgen eine Flasche Wasser gegeben, abends eine Schüssel Reis. „Zum Essen gab es immer Peitschenhieben.“

Wer arbeiten konnte, wurde auf nahegelegene Farmen gebracht. Dort mussten sie schuften – das Geld behielt die Miliz, die das Lager führte. „Neben mir sind dreizehn Flüchtlinge an Schwäche gestorben“, erzählt Mussie. Das Perfide daran: Ab und zu seien sie fotografiert worden. „Wir wussten nicht warum.“ Später hätten sie erfahren, dass die Bilder an Hilfsorganisationen gingen, die mit ihnen um Spenden warben.

Schließlich hätten es die Menschen nicht mehr ausgehalten. Ein paar hundert seien geflohen. „Die Wächter haben ihre Waffen genommen. Dann haben sie sich verteilt und auf jeden geschossen, den sie gesehen haben.“ Nach diesem Vorfall sei das Lager geschlossen worden. „Die Überlebenden wurden an andere Schlepper verkauft.“

Während Mussie erzählt, umspielt ein Lächeln seinen Mund. Es ist das Lächeln eines Menschen, der mit seinen Gefühlen kämpft und versucht, sich nicht von ihnen übermannen zu lassen.

„Zum Essen gab es immer Peitschenhiebe.“
Mussie

Ob sie niemals daran gedacht hätten, einfach umzudrehen und nach Hause zurückzugehen? „Mein Ziel war es immer, nach vorne zu gehen und in Frieden zu leben“, erklärt Teklit. „Zuhause wartet nur noch das Gefängnis und Folter auf uns.“ Außerdem sei die Flucht teuer erkauft – nicht nur finanziell: Wenn die Behörden erfahren, dass ein Familienmitglied geflohen ist, würden die Eltern inhaftiert. Die Regierung versuche, Geld von ihnen zu erpressen. Erst nach Wochen oder Monaten kämen sie wieder frei.

Die Flucht hat Mussie, Teklit und die anderen verändert. Die Erinnerungen werden sie niemals loslassen. Etwas Positives haben sie dabei aber doch gelernt: „Alle haben einander geholfen – immer“, erzählt Mihretab. Auch jetzt noch teilen sie alles brüderlich. „Wenn ich etwas zu essen bekomme, dann gebe ich ganz automatisch etwas an die anderen ab“, sagt Dawit. „Dabei hat hier ja jeder selbst genug Essen.“

Nun wünschen sie sich ein möglichst normales Leben. Alle haben schon konkrete Pläne, was sie lernen wollen. Schreiner, Maurer, Gärtner. „Sie strengen sich sehr an, können schon gut Deutsch“, sagt Heinz Sanwald. „Jetzt liegt es auch an uns, ihnen zu helfen und den Schatz zu heben.“ Auch wenn das alles in diesem Moment sehr weit weg erscheint, so wollen die jungen Eritreer es doch schaffen. Unbedingt. Damit sie an einem anderen Weihnachten irgendwann glücklichere Geschichten erzählen können.