Mit Gehrock und Zylinder geht es zum Rüdenhäuser Bürgerauszug. Viele von ihnen stammen von Karl Graf zu Castell-Rüdenhausen
„Der ist zu weit“, sagt Karl Graf zu Castell-Rüdenhausen. „Da passt du ja zweimal rein.“ „Aber oben spannt er trotzdem“, antwortet Fabian Rennert lächelnd und zupft am Stoff. Also zieht er den schwarzen Gehrock wieder aus, hängt ihn zurück in den provisorischen Kleiderschrank: Einen Baum in des Grafen idyllischem Garten.
„Die Menschen hatten früher komische Figuren: An den Schultern ganz schmal und trotzdem so einen Bauch“, sagt der Graf und macht eine ausschweifende Armbewegung. Doch das ist nicht das einzige, das sich seit damals geändert hat.
„Damals“, das heißt vor über 300 Jahren, als die Vorfahren von Graf Karl die erste Bürgerwehr ins Leben gerufen haben. Jeder männliche Bürger war verpflichtet, eine Waffe zuhause zu haben und jeden Sonntag nach der Kirche einen Übungsschuss abzugeben. „Meine Vorfahren haben dann ein Scheibenschießen, am Dienstag nach der Kerm eingeführt.“ Waffenzwang und Übungsschuss sind verschwunden, der Bürgerauszug und das Schießen am Kirchweihdienstag sind geblieben.
Jeder männliche Bürger ab 18 Jahren darf beim Bürgerauszug mitmachen. Und tatsächlich machen fast alle mit, erzählt Fabian Rennert. Weil es Tradition ist – und natürlich auch, weil es Spaß macht. Er wird dieses Jahr 20 – trotzdem ist es sein erstes Mal. „Letztes Jahr konnte ich nicht“, sagt der Polizist. Das Jahr davor durfte er noch nicht.
Für den Anlass muss der 20-Jährige natürlich angemessen gekleidet sein. „In anderen Regionen, beispielsweise Oberbayern, gab es Trachten. Bei uns trug man zu feierlichen Anlässen den Sonntagsanzug – also Gehrock und Zylinder“, erzählt Graf Karl.
Zwischenzeitlich drohte die Tradition auszusterben: In den 60er Jahren seien oft nur noch die ersten zwei Reihen tatsächlich in Gehrock gelaufen, der Rest in Zivil. „Mittlerweile ist das traditionelle Outfit sogar Pflicht.“ Aber auch ohne diese Pflicht würden wohl die Meisten mitmachen, meint der Graf.
„Mittlerweile haben viele wieder ihren eigenen Gehrock und Zylinder.“ Entweder irgendwo gebraucht gekauft oder sogar schneidern lassen. „Das freut mich sehr! Es zeigt, wie wichtig diese Traditionen genommen werden.“