Hanjo von Wietersheim ist Koordinator der Psychosozialen Notfallversorgung im Landkreis Kitzingen. Bei der Familientragödie am Dienstag in Iphofen war er mit Kollegen vor Ort, um Hinterbliebene und Einsatzkräfte zu unterstützen. Er sagt: „Das Schlimmste ist es, den Angehörigen aus dem Weg zu gehen“
Immer wieder Schreckensnachrichten, immer wieder unfassbares Leid. Die Notfallseelsorger sind gefordert wie nie zuvor. Hanjo von Wietersheim, evangelischer Pfarrer von Iphofen und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Notfallversorgung im Landkreis Kitzingen (PSNV), gehörte zu den sechs Notfallseelsorgern, die am Valentinstag in Iphofen im Einsatz waren. Ein Mann hatte allem Anschein nach seine Frau umgebracht und sich dann selbst im Schuppen neben dem Haus erhängt. Der Sohn fand die ermordete Mutter in der Küche liegend und dann auch den toten Vater. Wie kann man das verarbeiten?
Frage: Notfallseelsorger sind in jüngster Zeit besonders gefordert – oder täuscht dieser Eindruck?
HANJO VON WIETERSHEIM: Nein, der Eindruck täuscht nicht. Im vergangenen Jahr hatten wir 77 Einsätze – das ist die zweithöchste Zahl, seit es die PSNV im Landkreis Kitzingen gibt. Nur 2015 waren es noch mehr Fälle, nämlich 85 – allerdings waren viele davon keine akuten Einsätze, sondern einfache Hilfeleistungen nach der Flüchtlingswelle; zum Beispiel waren wir in der Notunterkunft im Kitzinger Innopark einfach für die Leute da.
Es wirkt, als seien die Einsätze in den vergangenen Monaten besonders brutal gewesen. Ist das so?
WIETERSHEIM: Ja, die Heftigkeit und Brutalität einiger Einsätze der vergangenen Monate ist bestürzend – etwa beim Axtattentat in Würzburg, beim erweiterten Suizid in Markt Einersheim und jetzt auch beim erweiterten Suizid in Iphofen.
Haben Sie eine Erklärung für die Zahl und die Heftigkeit der Fälle?
WIETERSHEIM: Nein. Manchmal scheint es mir, als gebe es Suizidwellen. Aber das ist nicht mit Zahlen zu beweisen.
In Iphofen handelt es sich nicht nur um eine Selbsttötung, sondern offenbar um erweiterten Suizid. Warum „löst“ jemand seine Probleme, indem er andere Menschen mit in den Tod reißt?
WIETERSHEIM: So einfach lässt sich das leider nicht sagen. In vielen Fällen sind die Täter massiv aggressiv. Wenn sie eine vermeintliche Kränkung erfahren, glauben sie, dass sie damit nicht leben können. Und jemand anders soll das auch nicht.
Lässt sich erweiterter Suizid mit einer psychischen Erkrankung, etwa Depression, erklären?
WIETERSHEIM: Nein. Manche Menschen, die psychisch krank sind, sehen plötzlich keinen Ausweg mehr und töten sich selbst. Aber sie sind nicht aggressiv gegen andere Menschen. Wenn jemand nicht nur sich selbst umbringt, sondern andere mit in den Tod nimmt, dann ist das nicht die Folge einer normalen Depression, sondern da spielt auch sehr viel Aggression mit.
Können die Angehörigen der Toten, die beiden Kinder und die Enkelkinder, nach so einem Erlebnis je wieder ein normales Leben führen?
WIETERSHEIM: Das ist die Crux in solchen Fällen: Für denjenigen, der sich selbst getötet hat, ist es vorbei. Aber die anderen müssen mit seiner Tat weiterleben. Sie werden immer wieder mit dem Haus, mit dem Ort, mit dem Geschehen konfrontiert. Um so etwas verarbeiten zu können, braucht es viel Zeit und einfühlsame Menschen.