Geschichte Der Knetzgauer Matthias Ruß hat mit seinem Bruder und zwei Freunden den deutschen Soldatenfriedhof Sologubovka in der Nähe von St. Petersburg besucht. Den Touristen ist ein Russland begegnet, das sie so nicht erwartet hatten.
von unserem Redaktionsmitglied
klaus schmitt
Knetzgau — In einem mehrseitigen Erlebnisbericht hat Hubert Michael Ruß seine Eindrücke festgehalten: "Irgendwo, mitten im Nichts spuckte uns der hart und laut bremsende Zug aus. Nur ein Bahndammschild mit der Aufschrift ,Sologubovka' machte uns klar, dass wir nach eineinhalb Stunden Fahrt angekommen sind." Sie waren am Ziel - fast. Nach 70 Kilometern Bahnfahrt stiegen Matthias Ruß (41 Jahre), sein Bruder Hubert Michael Ruß (54) sowie Markus Zimmermann (41) und Thomas Schnös (41) aus dem Zug, in den sie in St.Petersburg eingestiegen waren. Noch einige Kilometer Fußmarsch hatten sie vor sich, um ihr endgültiges Ziel zu erreichen: den deutschen Soldatenfriedhof Sologubovka, auf dem über 50 000 deutsche, im Zweiten Weltkrieg gefallene Soldaten bestattet sind. Es wurde ein beschwerlicher Weg.
Auf Betonplatten Sie gingen auf einer "kaputten Betonplatten-Straße, wohl noch aus der sowjetischen Zeit", beschreibt Hubert Michael Ruß weiterhin. "Es war feuchtheiß, ich fühlte mich wie in den Tropen, und die angriffslustig surrenden Bremsen um uns herum warteten auf den Moment, wenn wir stehenblieben, um zuzustechen." Nach einer ersten Wegbeschreibung hatten sie fünf Kilometer zu Fuß zu gehen. Es waren wohl einige mehr. In Russland sind die Entfernungen andere als in Deutschland...
Die Strapazen, denen die beiden Ruß-Brüder sowie Zimmermann und Schnös ausgesetzt waren, sind nicht mit denen zu vergleichen, die die Menschen in dem Gebiet vor über 70 Jahren auszuhalten hatten. Die vier Touristen befanden sich auf umkämpftem Boden. Fast 900 Tage zwischen September 1941 und Januar 1944 belagerte die deutsche Wehrmacht St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Die Angreifer wollten die Stadt aushungern. Menschen starben, Zivilisten und Soldaten. Mit unglaublicher Härte wurden die Kämpfe geführt. Diktator Adolf Hitler wollte Leningrad dem Erdboben gleich machen. Es gelang nicht.
Mit diesem düsteren Kapitel der Geschichte sahen sich Matthias und Hubert Michael Ruß sowie Markus Zimmermann und Thomas Schnös konfrontiert, als sie auf der Betonplatten-Straße unterwegs waren. Nach einem Teil des Weges nahm sie ein freundlicher Russe in seinem Transporter mit.
Wenige Besucher Das Interesse an der Geschichte hat die vier Besucher hierher gebracht. Es sind nicht viele Individual-Touristen, die den Weg auf sich nehmen. Vielleicht 50 im Monat, erfuhr das Quartett vom Personal des Soldatenfriedhofs. Es ist nicht der erste Soldatenfriedhof, den sie besuchen.
Matthias Ruß schätzt, dass er schon mindestens 15 solcher Anlagen besichtigt hat. Über ganz Europa verteilt. Ein Erlebnis hat ihn besonders geprägt: Vor einigen Jahren besuchte er mit Emil Stahl aus Geusfeld (heute 91 Jahre), dem Opa seiner Frau, einen Soldatenfriedhof in Italien. Dort fand Stahl überraschend das Grab eines Kameraden, mit dem er im Zweiten Weltkrieg in einer Gruppe gekämpft hatte und der im Juli 1944 gefallen war. Außerdem traf Stahl mit einem Italiener zusammen, der ebenfalls Soldat im Zweiten Weltkrieg war - auf der anderen Seite.
Seit 20 Jahren befasst sich Matthias Ruß mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Er gehört dem Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge an und ist wie Zimmermann und Schnös Mitglied bei den Knetzgauer Reservisten. Sein Bruder Hubert Michael Ruß ist Lehrer im Raum Frankfurt am Main - für Geschichte.
Woher kommt dieses Interesse an der Geschichte des Zweiten Weltkriegs? Matthias Ruß weiß es selbst nicht so genau. "Ich kann es nicht erklären", sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. Es habe mit dem Respekt vor den Großvätern zu tun, vor der Generation, die damals gelebt hat und als Soldaten in den Kampf und häufig in den Tod geschickt wurde.
Jeder habe einen gewissen Bezug dazu, denn der Zweite Weltkrieg überzog fast die ganze Welt, meint der Knetzgauer. "Es gibt noch mehr solche wie uns", die das gleiche Interesse haben, weiß er inzwischen aus seinen vielen Recherchen. Matthias Ruß hat sich viel mit älteren Menschen unterhalten, die den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt haben. Das wird schon bald nicht mehr möglich sein, denn die Zeitzeugen werden immer weniger, und irgendwann lebt niemand mehr von ihnen.
Einen direkten Bezug zum Soldatenfriedhof Sologubovka hatten die Vier aus Deutschland nicht. Sie wussten allerdings, dass der Opa von Markus Zimmermann bei den Kämpfen um Leningrad eingesetzt war.
Matthias Ruß, sein Bruder und die beiden Freunde fanden in Sologubovka einen "sehr gepflegten" Soldatenfriedhof vor. Sie trafen auf einen Wärter, der ihnen nähere Erläuterungen gab. Und sie lernten dort wie auch auf ihrer ganzen Reise nach St. Petersburg und Umgebung keinen einzigen Russen kennen, der sie unfreundlich behandelt hätte. Die vier Deutschen hätten sich über eine ablehnende Haltung nicht gewundert, schließlich hatten die Nazis vor über 70 Jahren Russland überfallen und unermessliches Leid und Tod über das Land gebracht. Irgendeine Feindschaft haben sie nie gespürt, dagegen sehr viel Hilfsbereitschaft, schildert Matthias Ruß. Der Wärter, der ihnen die Anlage in Sologubovka zeigte und erklärte, wollte nicht einmal ein Trinkgeld nehmen. Er hat aus Überzeugung den Soldatenfriedhof vorgestellt. Die anfängliche Skepsis, die die vier Besucher hatten, verflog schnell.
Matthias Ruß hat erfahren: "Wir waren gern gesehene Touristen." Nicht nur auf dem Soldatenfriedhof, sondern auch in St. Petersburg und an den anderen Orten, an denen sie waren. Sie haben viel mit Russen, auch mit jungen Leuten "über Gott und die Welt gesprochen". Matthias Ruß hätte es nicht für möglich gehalten, dass er mit Russen bis Mitternacht zusammensitzen und sich mit ihnen unbeschwert bei einem Bier unterhalten würde. Selbst die Sprache bildete kein Hindernis.
"Schlechtere Erfahrungen" Dass Matthias Ruß und seine drei Begleiter zu Beginn skeptisch waren, hat mit Erlebnissen zu tun, die er früher an anderen Orten gemacht hatte. Zum Beispiel in Frankreich "hatte ich schlechtere Erfahrungen". Da wurde dem Deutschen bisweilen zu spüren gegeben, dass es die Deutschen waren, die im September 1939, jetzt vor 75 Jahren, Europa und die ganze Welt in eine Katastrophe gestürzt hatten. In Russland "habe ich mich wohler gefühlt als in Frankreich", gesteht Matthias Ruß. Und das sagt er in einer Zeit, in der die ganze Welt mit Sorge wegen des Konflikts in der Ukraine auf Russland schaut. Vor Ort sieht die Welt doch ein bisschen anders aus als in den Medien.