Julia Gais-Lemmer, die ihren Nachnamen gern zum lautmalerischen "Glemmer" verkürzt, kaufte sich gute, bunte Trainingsklamotten, inklusive Unterwäsche, "damit alles schön sitzt". Sie will sich beim Laufen wohlfühlen, da soll nichts reiben. "Natürlich habe ich mir enge Hosen gekauft. Ich laufe mir doch keinen Wolf! Außerdem sieht man meine Figur auch, wenn ich mir einen Sack überstülpe."
Die Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf die kleine, starke Frau, die läuft. Neulich feuerte sie "so ein braun gebrannter, muskelbepackter Ken" an: "Du schaffst das!" Am gleichen Tag lief die Fränkin aber auch an einer Parkbank vorbei, auf der "zwei Nagelfeilen" saßen, sie anstarrten wie ein widerliches Insekt und offensichtlich lästerten. "Die hatten Glück, dass ich auf Zeit laufe", meint die 43-Jährige, "sonst hätte ich denen mal ein paar Worte fürs Kleinhirn diktiert."
Nur zwei- bis dreimal pro Woche machte sie sich anfangs auf den Weg. Ihr Tempo sei dabei so gering gewesen, "dass ich Angst hatte, mich überholen die Omas mit ihren Rollatoren". Mittlerweile braucht ihr Körper schon deutlich weniger Pausen zwischen den Lauftagen und so geht es fast jeden zweiten Tag auf die Strecke. "Ich kann jetzt auch mal von schnellem Gehen in leichtes Joggen verfallen." Sie passt gut auf, ihre Gelenke nicht zu überlasten: "Mein Körper ist ja mein Sportgerät, das ich gut pflegen muss."
Nach knapp zehn Wochen Training schafft Julia Gais-Lemmer mittlerweile bis zu zwölf Kilometer am Stück; jeden zweiten Tag läuft sie fünf Kilometer. "Man wird süchtig", meint sie und erklärt: "Ist der erste Kilometer überstanden - da denke ich jedes Mal wieder, ich sterbe gleich -, komme ich immer mehr in einen Flow. Bei Kilometer drei kommt die Brücke des Grauens mit ihrer kurzen, steilen Steigung. Bei Kilometer fünf fange ich wie blöd das Grinsen an, alles ist ganz locker, ich genieße die Musik im Ohr. Bei Kilometer acht kriege ich eine Gänsehaut und wenn Kilometer zehn geschafft ist, fühle ich mich wie eine Königin."
"Mindestens Vorletzte werden"
Um das Laufen dauerhaft in den Alltag zu integrieren und nicht wieder träge zu werden, hat Julia Gais-Lemmer sich für mehrere Wettkämpfe angemeldet: am 13. Juni startet sie zum Beispiel über fünf Kilometer beim "Mein Frauenlauf", am 20. Juni ebenfalls über fünf Kilometer bei "Deutschland läuft weiter". Bei beiden Rennen läuft wegen Corona jeder Teilnehmer zuhause für sich, allerdings zeitgleich mit den anderen im Land. "Mein Motto: Dabeisein ist alles - aber ich will mindestens Vorletzte werden!" Auch für die entferntere Zukunft hat sie Ziele: Beim Mallorca-Marathon am 10. Oktober 2021 will sie die Zehn-Kilometer-Strecke laufen. "Und bevor ich 50 werde, will einen Halbmarathon schaffen."
Kasteien wird sich das "Vollblutweib" dafür nicht. "Ich laufe nicht in erster Linie zur Gewichtsabnahme, sondern um meinem Körper etwas Gutes zu tun. Das mache ich auch sonst: Ein Spaghetti-Eis und ein Erdbeerkuchen ab und zu müssen drin sein." Dafür läuft sie gerne ein paar Meter weiter. "Jeder Schritt zählt! Wenn ich mal einen schlechten Tag habe, dann denke ich mir: Ich war immer noch schneller als jeder, der seinen Hintern nicht von der Couch bewegt hat."
"Laufen kann jeder! Und wenn nicht, dann gehen. Oder kriechen! Hauptsache, man bewegt sich", macht die 43-Jährige allen Menschen Mut. Gute Schuhe seien wichtig. "Und anfangs sollte man sich auf gar keinen Fall ständig wiegen: Muskeln sind schwerer als Fett!" Julia selbst misst ihren Erfolg an Umfängen: Oberschenkel, Taille, Hüfte. "Wenn es überall weniger wird, gibt das zusätzlich Motivation."
Immer, wenn sie wieder losläuft, nimmt sie einen Wunsch mit auf den Weg: "Hoffentlich sieht mich eine dicke Frau, die denkt: Wenn die vorwärts kommt, kann ich das auch!"
Kontakt:www.frau-g.com