Schloss Bellevue fest in Kinderhand

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Bundespräsident Horst Köhler, seine Frau Eva Luise und die Finalisten des 50. Vorlesewettbewerbs des Deutschen Buchhandel. Foto: dpa

Nadja hebt und senkt ihre Stimme, jeder Satz hat seinen eigenen Rhythmus. Sie blickt auf, guckt ihr Publikum ruhig an und erzählt dann weiter - wie es gute Vorleser tun.

Die 11-Jährige hat die Zuhörer im Schloss Bellevue fest im Griff. Sie lachen, wenn das Mädchen aus Jena bei diesem Finale des 50. Vorlesewettbewerbs des Deutschen Buchhandels eine komische Passage liest und applaudieren. Später wird die Jury, der auch Schauspieler Rufus Beck angehörte, sie zu einer von zwei Siegerinnen küren. Auch Franziska Kramer (12) aus Schwerin konnte mit ihrem Können überzeugen.
Die Mädchen haben es als zwei von 28 Kindern ins Finale geschafft. Unter großen Kronleuchtern saßen sie auf einem roten Podest und lasen Bundespräsident Horst Köhler in dessen Berliner Amtssitz drei Minuten lang aus ihren Lieblingsbüchern vor. Es war das erste Mal, dass „Kinder hier beim Staatsoberhaupt vorlesen, das hat es noch nie gegeben“, sagte er zur Begrüßung. Seit 1959 haben an dem traditionsreichen Wettbewerb der deutschen Buchbranche mehr als 15 Millionen Kinder aus sechsten Klassen teilgenommen.
Nadja wählte den Titel „Müller hoch drei“ von Burkhard Spinnen. Darin entscheiden die Eltern, sich von ihrem Kind zu trennen und um die Welt zu reisen. „Ich wollte ein lustiges Buch haben, weil lustig gefällt mir“, erzählte das blonde Mädchen. Fantasy-Geschichten wie „Herr der Ringe“ „kann ich überhaupt nicht leiden“. Geübt habe sie zu Hause und dort das Lesen immer weiter verfeinert. Wichtig sei ihr, dass ihr Vortrag nicht auswendig gelernt rüberkomme, sagte Nadja.
Die 11-Jährige lockerte den feierlichen Rahmen auf, indem sie die Stimmen der Protagonisten imitierte und durch Pausen ihre Pointen setzte. „Man muss mit dem Herzen dabei sein und es stimmlich rüberbringen“, sagte Jurymitglied Rufus Beck nach der Kür der Sieger. „Am wichtigsten ist, dass man das, was man vorliest auch versteht und die Dinge vor Augen hat. Dann wird man automatisch langsamer. Und wichtig sind Pausen. Wenn man selber zu sehr außer Atem gerät, gerät der Zuhörer auch außer Atem“, sagte Beck, der als Hörbuch-Sprecher bekannt ist.
In der Jury des Finales saßen außerdem Silke Kraushaar, Olympiasiegerin im Rennrodeln, der Kinderbuchautor Jürgen Banscherus und der Hörbuchsprecher Oliver Rohrbeck. Auch die Vorjahressieger Justina Kämpf aus Leipzig und Kai Gies aus Berlin durften mitentscheiden. Bewertet wurden auch die Aussprache, Betonung und die Auswahl des Buches.
Jedes Jahr treten zum Vorlesewettbewerb, der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisiert wird, etwa 700.000 Schüler aus rund 7500 Schulen an. Über Landesentscheide qualifizieren sie sich für die Endrunde auf Bundesebene.
Der Berliner Bodo Sengebusch war 1959 der erste Bundessieger im Vorlesen. „Das war ganz spannend damals. Ich bin ohne meine Eltern nach Frankfurt geflogen“, erzählte der ehemalige Physiklehrer. „Wir waren eine lustige Kindertruppe, von Konkurrenz war überhaupt nichts zu spüren. Der Umgang mit der Jury war aber ein ganz anderer, die waren für uns Kinder alle wie schwarze Pinguine mit Schlips und Kragen.“ Vorgelesen hat Sengebusch damals aus „Tom Sawyer“ von Mark Twain. Auch in diesem Jahr habe er sich eine Finalistin diesen Kinderbuch-Klassiker zum Vorlesen ausgesucht, erzählt der 64-Jährige und schmunzelt.