Einmal Hans-Dietrich Genscher treffen und den Atem der Geschichte spüren. Für Kunden der Sparkasse Forchheim wurde das am Donnerstag beim "Exklusiv-Vortrag" in der Heroldsbacher Hirtenbachhalle möglich.
Auch Viola und Thomas Korneli nutzten die Gelegenheit, einen der Architekten der Deutschen Einheit zu sehen. Für sie war es allerdings ein Wiedersehen nach 25 Jahren, und ihre persönliche Geschichte ist selbst ein Stück Zeitgeschichte.
Das Ehepaar, das sich durch Häusersanierungen in Forchheim (zuletzt Gerberei Endres) einen Namen gemacht hat, kommt ursprünglich aus Dresden und floh im Sommer 1989 über Ungarn in die Bundesrepublik. "Ein Großteil meiner Familie war damals politisch inhaftiert", blickt Viola Korneli zurück. Trotzdem suchte die Familie erst in zweiter Linie vor dem DDR-Regime das Weite.
Emotional und kämpferisch
Noch wichtiger war der Wunsch, im Westen eine bessere medizinische Versorgung für die vierjährige Tochter Susann zu erhalten, die unter den Nachwirkungen eines Luftröhrenschnitts litt. Deshalb die Flucht.
Deshalb das Zusammentreffen mit Genscher vor 25 Jahren - in einer Flüchtlingsunterkunft in Wiesbaden. "Damals haben wir ihn so emotional und so kämpferisch erlebt", sagt Viola Korneli. Und genau das strahle er auch noch heute aus.
Auf dem Podium der Hirtenbachhalle dreht sich vieles um jenes Jahr 1989, als die Mauer fiel. Genscher hält keinen Vortrag am Stehpult, sondern sitzt im bequemen Ledersessel und lässt sich ausfragen von Frank Ebert, dem Redaktionsleiter von Oberfranken-TV. Altersflecken und belegte Stimme - seine 87 Jahre sind dem Ehrenvorsitzenden der FDP und dem ehemaligen Außenminister zu Beginn anzumerken. Aber das ist nur Oberfläche. Der Mann mit dem gelben Pullunder, den er auch am Donnerstag trägt, redet sich schnell frei und offenbart in jedem seiner geordneten Sätze einen klaren Geist.
Die rund 800 Gäste hängen an seinen Lippen.
Die Prager Botschaft
Genscher macht die Geschichte wieder lebendig. Er erzählt von seinem Flug nach Prag, wo er vom Balkon der BRD-Botschaft den dort Schutz suchenden DDR-Bürgern die Ausreise-Erlaubnis verkünden durfte. Damals habe er vor allem daran gedacht, wie er den Menschen beibringt, dass ihr Zug in die Freiheit durch die DDR führen sollte. Eine Idee, wie er beiläufig erklärt, die er selbst dem DDR-Außenminister souffliert hatte. Er hatte nämlich erkannt, dass die Verantwortlichen des am Boden liegenden sozialistischen Staats das Gefühl brauchten, ihre Souveränität zu wahren, um einlenken zu können.
Die Menschen in der Prager Botschaft hatten dennoch Angst und ließen sich erst beruhigen, als sich Genscher persönlich für ihre Sicherheit verbürgte.
Er habe nicht geglaubt, dass etwas passieren könnte - und dennoch: "Als ich die Nachricht bekommen habe, dass der Zug in Hof war, habe ich zu meiner Frage gesagt: Jetzt machen wir eine Flasche auf!"
Die Zuhörer lachen, auch Viola Korneli, die in der zweiten Reihe sitzt, direkt hinter dem Platz, auf dem Genscher vor der Veranstaltung noch gesessen hatte. Sie strahlt, fühlt sich emotional mit dem Mann auf der Bühne verbunden: "Er hat gekämpft wie wir, dass die Wiedervereinigung Realität wurde. Da hat er einen Herzinfarkt und dann fliegt er kurz darauf schon wieder zu Verhandlungen - das ist schon genial." Der FDP-Politiker sagt seinerseits einen Satz über die Botschafts-Flüchtlinge, der genauso auf die Kornelis zutrifft: "Diese Menschen haben ihr Schicksal in die Hand genommen, in Wahrheit haben sie Geschichte geschrieben und den Fall der Mauer eingeleitet."
Signale aus der Sovjetunion
Wenn Genscher über jene Zeit spricht, fallen immer zwei Namen: Gorbatschow und Schewardnadse. Der sowjetische Generalsekretär und sein Außenminister hätten es durch ermutigende Signale und die Erkenntnis, dass sich ihr System wandeln muss, erst ermöglicht, dass die Teilung Europas beendet wurde. Schon bei seinem ersten Treffen mit Gorbatschow habe er gemerkt, dass sich dieser Mann trotz all der kommunistischen Erziehung "seine innere Freiheit bewahrt hat".
Genauso wichtig für die Wiedervereinigung seien Gespräche und Vertrauen gewesen. Verhandeln auf Augenhöhe nicht Triumphieren über ein gescheitertes System - das brachte den Erfolg.
Darum bezeichnet Genscher auch Englands Premierministerin Margret Thatcher als "eine besondere Freundin der Vereinigung" - und keiner im Saal überhört hier die Ironie -, weil sie dieses Prinzip nicht verstanden habe und noch kurz vor Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags die Position des Westens auszunutzen versuchte, um die Sowjetunion mit einer neuen Forderung zu demütigen. Genscher schaffte es damals, Thatcher zu isolieren, so dass der Vertrag über die Vereinigung nicht in Gefahr geriet.
Zeit für einen neuen Anfang
"Der Dialog ist damals der richtige Weg gewesen", sagt Genscher und schlägt den weiten Bogen zur aktuellen Politik und zur Ukraine-Krise. Seine einstige Strategie gibt er den politischen Akteuren von heute als Handlungsanweisung mit.
Dem russischen Präsident Putin müsse der Westen nicht die Hand küssen, "es reicht schon, wenn wir ihm die Hand geben". Es sei an der Zeit einen neuen Anfang mit Russland zu suchen. Zum Abschluss macht Genscher mit klarer Stimme den Zuhörern Mut: "Wenn es möglich war, die deutsche Frage zu klären, muss es auch möglich sein, die Probleme von heute zu lösen. Deshalb bin ich froh, dass Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier Gespräche mit Putin führen."
Die etwas mehr 60 Minuten sind vorbei. Wie im Flug vergangen. Genscher verlässt gestützt von Ebert die Bühne, die Zuschauer erheben sich langsam. Die Kornelis sind tief bewegt: "Er gehört zu den Menschen, die allein durch ihr Wesen etwas verändern können." Und dann staunt Viola Korneli über die Geschichte, von der sie selbst ein Teil ist: "Wie friedlich der Mauerfall abgegangen ist - das ist schon unglaublich."