Türkei: Erlanger Politologin Kulaçatan erklärt Erdogans Vision für das Jahr 2023

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Foto: Marius Becker, dpa
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Politologin Meltem Kulaçatan spricht über Ursachen und Folgen des Putsches und eine allgemeine Tendenz zu politischem Chauvinismus.

Politologin Meltem Kulaçatan spricht über Ursachen und Folgen des Putsches und eine allgemeine Tendenz zu politischem Chauvinismus.

8000 Polizisten und 3000 Richter wurden entlassen, Tausende Soldaten festgenommen, die Todesstrafe ist im Gespräch - wie konnte die Regierung so schnell reagieren?
Meltem Kulaçatan: Die Reaktion und die mediale Präsenz der Regierung sind trotz der Angst im Grunde sehr geordnet. Es ist möglich, dass sie vorher Wind von der Sache bekommen haben, aber das ist spekulativ. Was sich zugetragen hat, werden wir - wenn überhaupt - erst im Nachhinein erfahren, denn die Regierung ist nicht auf Transparenz aus. Die Namen unliebsamer Personen aus Justiz, Polizei, Medien und Hochschulen waren hingegen schon lange bekannt.

Was passiert jetzt?
Das, was jetzt passiert, wird mit dem Begriff "Säuberung" beschrieben. Für die Menschen bedeutet dieses furchtbare Wort einen Alptraum, in dem sie mit Repressionen und Folter bis hin zum Tod rechnen müssen. In der gesellschaftlichen Struktur bedeutet es, dass ein kompletter Personalaustausch stattfindet - und das ist Teil des politischen Ziels für das Jahr 2023. Dann feiert die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen. Die AKP hat bereits 2011 die Vision "Hedef 2023" entwickelt. Diese vermittelt ein Gesellschaftsbild, das auf einem wie auch immer konstruierten Islam fußt, der mit der Politik verwoben ist - gepaart mit einem türkischen Nationalismus. Dazu gibt es Werbespots, die das Bild von Menschen zeigen, die sehr fromm sind, ökonomisch orientiert und sehr autoritätshörig. Wenn wir diese Vision anschauen, ist absolut logisch, dass diejenigen ausgetauscht werden, die dem nicht entsprechen. Nach meinen Beobachtungen ist die jetzige Regierung spätestens seit 2008 davon ausgegangen, dass sie 2023 noch an der Macht sein wird. Das Land positioniert sich immer stärker totalitär.

Sie haben vor Jahren intensiv über Fethullah Gülen geforscht - welche Rolle spielt er bei dem Putsch?
Man kann wohl ausschließen, dass Gülen persönlich dahinter steckt, und auch die Gülen-Bewegung als solche kann ich mir nicht als Drahtzieher vorstellen. Allerdings ist gut möglich, dass Teile des Militärs beteiligt sind, die der Bewegung zumindest noch nahe stehen. Inzwischen nennt sich die Bewegung Hizmet ("Dienst"). Man will den Dienst am Menschen in den Vordergrund stellen und ein wenig von der Figur Fethullah Gülens als Spiritus Rector wegkommen.

Nicht nur Erdogans einstiger Weggefährte Gülen kritisierte die Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste 2013 - auch Europa stellte fest, dass es mit der Demokratie in der Türkei nicht so weit her ist ...
Europa hat sich zu sehr auf die florierende Skyline Istanbuls konzentriert, auf wirtschaftliche Aspekte. Kaum einer hat sich für die Innenpolitik interessiert. Ein Beispiel: 2006 wollte die AKP eine Gefängnisstrafe fürs "Fremdgehen" einführen. Mit dem Begriff "Zina" wurde der Ehebruch in den islamischen Kontext gestellt. Es ging ein Aufschrei durchs Land, es war gesellschaftlicher Konsens, dass
private und politische Angelegenheiten nicht vermischt werden sollten. Die AKP ruderte zurück. Heute ist es Konsens, dass Ehebruch bestraft werden sollte. Seit 2008 wurde auch immer mehr Kunst verboten, zum Beispiel Ballettstücke, in denen es Berührungen zwischen Mann und Frau gibt. In der Stadt Kars wurde das Menschenrechtsdenkmal demontiert. Das sind Dinge, die in der Türkei kontrovers diskutiert wurden. Westliche Medien hat das nicht interessiert. Hier lag der Fokus nur auf der Wirtschaft - wie die Türkei zur Wirtschaftsmacht wurde, wer davon profitiert, wie es um Arbeitnehmerrechte bestellt ist? Danach hat keiner gefragt.

Was bedeutet diese Anspannung für die Türken in Deutschland?
Es gibt sehr unterschiedliche Meinungen. Da gibt es diejenigen, die Angst um ihre Verwandten, ihre Freunde in der zweiten Heimat haben. Aber wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern gibt es auch diejenigen, die die klare Positionierung eines Einzelnen wie Erdogan schätzen, die eindeutige Strukturen und Sprache befürworten. Es gibt derzeit insgesamt eine klare Tendenz zu politischem Chauvinismus. Eines sollte jedoch bedacht werden: Erdogan hat schon in seiner Zeit als Ministerpräsident um die Türken in der Diaspora geworben. In Deutschland dürfen Menschen mit türkischem Pass nicht einmal bei einer Kommunalwahl abstimmen, weil sie keine EU-Bürger sind. Erdogan kam hierher, hat Wahlwerbung gemacht und gesagt, die Leute sollten sich integrieren, aber nicht assimilieren. Das war Balsam und Anerkennung für die Seele der Türkeistämmigen.

Wie soll sich Europa verhalten?
Mir macht es Sorgen, wenn ich höre: Wenn es so und so ist, wenn die Todesstrafe wieder eingeführt wird, werden die Beitrittsverhandlungen gestoppt. Nein! Europa muss zeigen, dass wir nicht locker lassen. Denn es geht um sehr viele Menschen.

Das Interview führte
Natalie Schalk.




Zur Person:

Meltem Kulaçatan ist Politikwissenschaftlerin und Religionspädagogin. Für ihre Doktorarbeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen hat sie sich sechs Jahre lang intensiv mit der Gülen-Bewegung befasst, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan derzeit für den Putsch verantwortlich macht. Seit einem Jahr forscht die 40-Jährige an der Frankfurter Goethe-Universität u.a. zu Islam und Feminismus und zur Radikalisierung junger Frauen und Mädchen. Für das anstehende Wintersemester wechselt sie als Gastprofessorin an die Universität Zürich.