"Am Anfang ist einer tot" - der Alltag eines Unfallgutachters

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Alles wird fotografiert, auch der Jeep, der gerade auf den Abschleppwagen gehievt wird. Alle Fotos: Irmtraud Fenn-Nebel
Alles wird fotografiert, auch der Jeep, der gerade auf den Abschleppwagen gehievt wird.  Alle Fotos: Irmtraud Fenn-Nebel
Foto: Matthias Hoch, Irmtraud Fenn-Nebel
Foto: Matthias Hoch, Irmtraud Fenn-Nebel
 
Der Unfall passierte am Spätnachmittag. Bis Gutachter Fürbeth informiert war und vor Ort ankam, war es schon dunkel. Alles wird fotografiert, auch der Jeep, der gerade auf den Abschleppwagen gehievt wird. Fotos: Matthias Hoch, Irmtraud Fenn-Nebel
Der Unfall passierte am Spätnachmittag. Bis Gutachter Fürbeth informiert war und vor Ort ankam, war es schon dunkel. Alles wird fotografiert, auch der Jeep, der gerade auf den Abschleppwagen gehievt wird.  Fotos: Matthias Hoch, Irmtraud Fenn-Nebel
 
So sieht es aus, wenn Volker Fürbeth einen Unfall am PC nachstellt.
So sieht es aus, wenn Volker Fürbeth einen Unfall am PC nachstellt.
 
Der Aufprall des Auffahrunfalls war so stark, dass die beiden Autos einander in ein Beet am Straßenrand geschoben haben. Foto: Volker Fürbeth
Der Aufprall des Auffahrunfalls war so stark, dass die beiden Autos einander in ein Beet am Straßenrand geschoben haben.  Foto: Volker Fürbeth
 
 

Gutachter Volker Fürbeth rekonstruiert, wie es zu tragischen Unfällen gekommen ist. Er untersucht die Schäden an den Fahrzeugen und den Menschen. Auch bei den anschließenden Gerichtsverhandlungen ist er dabei.

Ein toter Motorradfahrer liegt in einer eisigen Winternacht auf einer Dorfstraße, irgendwo in Franken. Die Rettungskräfte konnten ihm nicht mehr helfen. Reste ihrer Arbeit, aufgerissene Verpackungen, Kanülen, blutige Tupfer, sind neben dem Leichnam verstreut, dessen Konturen sich unter einer Decke abzeichnen.

Um ihn herum kreisen Feuerwehrmänner und Polizisten. Routiniert und ruhig erledigen sie ihre Arbeit: Seit Stunden sind sie vor Ort, haben die Unfallstelle abgesperrt und ausgeleuchtet, den Verletzten und das Motorrad geborgen, den Notarzt alarmiert und den Staatsanwalt informiert, einen Abschleppdienst angefordert. Jetzt warten sie auf das Bestattungsunternehmen. Und auf Volker Fürbeth. Der Unfallgutachter soll herausfinden, warum der 33-jährige Motorradfahrer sterben musste.

Fürbeth spielt die Szenarien im Kopf durch

Als Fürbeth eintrifft, sagt er: "Ich fahre mit einer gewissen These an den Unfallort heran." Er lässt sich am Telefon den Sachverhalt erklären, dieses Mal: Ein Jeep hat bei der Einfahrt in seine Garage möglicherweise den Motorradfahrer übersehen. Fürbeth hat schon nach der ersten Schilderung der Polizei oft durchgespielte Szenarien im Kopf. Sie bestätigen sich vor Ort: "Weil das Auto quer steht, sieht man, dass es weit ausgeholt hat", erklärt der 52-Jährige und zeigt über die Straße.

Der Pkw muss extrem nach links ausgeschert sein, um im 90-Grad-Winkel nach rechts in seine Garage fahren zu können: Die Reifenspuren zeigen, dass die linken Räder weit über dem Mittelstreifen waren. Also muss es für den Motorradfahrer ausgesehen haben, als wolle der Pkw links abbiegen. Hat er deshalb Gas gegeben, um zwischendrin durchzurauschen?

Fürbeth ist sich jetzt schon ziemlich sicher, dass es später vor Gericht auf fahrlässige Tötung hinauslaufen wird. Das sagen ihm die Indizien vor Ort - und seine Erfahrung. Er studierte Maschinenbau und Kraftfahrzeugtechnik, nach der Uni macht er eine Ausbildung in Unfallanalytik. Mit diesen Kenntnissen ging er in den Ermittlungsdienst: "Ich fahre seit 25 Jahren für die Staatsanwaltschaft raus, um live vor Ort Spuren zu sichern." Parallel gründete er ein Büro für Unfallanalyse in Erlangen. Mit Außenstellen in Chemnitz und Suhl und 20 Mitarbeitern gehört es laut Fürbeth zu den zehn größten Firmen dieser Art in Deutschland.

"Ermitteln Sie jetzt gegen mich?"

Sieben Ingenieure unterschiedlicher Fachrichtungen rekonstruieren etwa 1000 Verkehrsunfälle im Jahr, außerdem untersuchen sie Personen- und Fahrzeug- sowie Materialschäden: Am Computer, im Labor und am Unfallort. Dort trifft Fürbeth oft auf Menschen, die ihn ängstlich fragen: "Ermitteln Sie jetzt gegen mich?" Dann erklärt er: "Nein. Wir arbeiten neutral für die Justiz." Die Analysten lassen sich weder von Versicherungen vor den Karren spannen noch von Autoclubs. "Wir halten uns den Rücken komplett frei für Zivil- und Strafgerichte", sagt Fürbeth. "Durch unsere Arbeit kommen die Leute zu ihrem Recht und Geld."

Mit weißer Kreide malt er große Striche auf die Straße und spannt mit einem fahrbaren Messtisch relevante Bereiche ab. "Der Kollisionspunkt muss sorgfältig ermittelt werden." Er fragt bei den Feuerwehrleuten nach, wie sie den Motorradfahrer und die Fahrzeuge vorgefunden haben, er spricht mit der Polizei. Sie ruft bei schweren Unfällen den Staatsanwalt an, der über die Einbindung eines Gutachters entscheidet. Wäre ein Motorradfahrer ohne Fremdeinwirkung verunglückt und Zeugen könnten den Hergang schildern, brauchte es keinen Gutachter.
Im aktuellen Fall aber ist Fürbeths Expertise gefragt. Er ist für die Staatsanwaltschaft in Nürnberg, Fürth, Erlangen und Bamberg im Bereitschaftsdienst - wenn sein Handy mitten in der Nacht klingelt, weiß er: Alarm. Aber: "Früher bin ich 100 Mal im Jahr rausgefahren, heute sind es allenfalls 50 Einsätze. Tödliche Unfälle nehmen rapide ab."

Selbst das kleinste Detail ist wichtig

Für die Analyse ist jedes noch so kleine Detail wichtig. Deshalb fotografiert Fürbeth pausenlos, zum Beispiel die Unterseite des Jeeps, der gerade auf den Abschleppwagen gehievt wird. Hunderte von Bildern werden es sein, wenn Fürbeth nach anderthalb Stunden seine Utensilien wieder im Kofferraum verstaut hat. Fotografieren statt schreiben: "Ich muss alles bildlich dokumentieren, weil in der Verhandlung die Fragen in breiter Streuung auf einen zukommen", erklärt Fürbeth. Passierte der Unfall in einer 30-er-Zone? Hatte das Auto eine Automatik? War das Motorrad gerade beim TÜV? "Bei einem solchen Unfall muss wirklich alles abgeprüft werden", sagt Fürbeth.
Was jetzt passiert: Die Fahrzeuge werden sichergestellt und technisch gecheckt, Alkoholtests angeordnet. Auch beim Motorradfahrer, der drei Tage später in Erlangen obduziert wird. Dabei bestätigten sich Fürbeths Vermutungen: Die gravierenden Verletzungen des Motorradfahrers spiegeln sich an den Schäden des zwei Tonnen schweren Jeeps. Einige Monate später wird der Autofahrer wegen fahrlässiger Tötung angeklagt und verurteilt.

Schuldfrage wird auch am PC gelöst

Ein anderer Ortstermin mit Gutachter Volker Fürbeth, diesmal im Landgericht. Er soll einen Abbiegeunfall klären. Der lief ab wie viele andere: "Zwei Autos sind aufeinander gefahren und am Ende stehen sie im Beet." Es gab Knochenbrüche und natürlich kaputte Fahrzeuge, es geht um 4700 Euro plus Nebenkosten.

Zeugen sind wenig relevant

Bei der Befragung des Richters sagt der Kläger, er sei in die Kreuzung eingefahren und habe den anderen nicht gesehen. Dann gab es einen lauten Knall und an mehr könne er sich nicht erinnern. Erst im Sanka sei er wieder aufgewacht. Der Beklagte sagt, der Kläger sei zu schnell gewesen und einfach in ihn hineingefahren.
Ein geladener Zeuge will beobachtet haben, dass der Beklagte bei rot in die Kreuzung eingebogen ist. Hinter vorgehaltener Hand sagt Fürbeth: "Zeugen kann man bei Verkehrsunfällen vergessen. Unfälle gehen einfach zu schnell, um sie exakt wiedergeben zu können."

Fürbeth war zu diesem Unfall nicht gerufen worden. Er sah sich die Stelle im Nachhinein an, machte dort eine Bildserie, maß den Lageplan ein, erarbeitete einen Ampelphasenplan. "Für die Unfallanalyse braucht man juristische Kenntnisse und man muss sehr wissenschaftlich arbeiten. Kleinigkeiten spielen eine große Rolle", sagt Fürbeth. Und schiebt nach: "Wir sind Erbsenzähler", und schmunzelt bei der Einschätzung seines Berufsbildes.
Den Kreuzungsunfall stellte er am Computer nach. "Die Unfallanalyse ist auch sehr PC-lastig", erklärt er. "Dafür gibt es weltweit etablierte Simulationsprogramme." Was sie nach Fürbeths Vorgaben ausgewertet haben, breitet er vor dem Richtertisch aus: Pläne, Skizzen und Fotoausdrucke, über denen Richter, Kläger, Beklagter und Anwälte ihre Köpfe zusammenstecken. Außerdem zeigt Fürbeth die Rekonstruktion über einen Beamer. Kern seiner komplexen Erklärungen: Ausgehend von der Endstellung der Fahrzeuge berechnete er deren Kollisionsgeschwindigkeit sowie Radierkräfte auf der Straße, er prüfte fünf Haupt- und 50 Untervarianten der Kollision unter Einbeziehung der Ampelschaltung.

Fürbeths Fazit: Der Beklagte hätte erkennen müssen, dass der Kläger nicht anhalten wird. Der Unfall hätte vermieden werden können. Vermeidung ist in diesem Fall der Sprachgebrauch der Gutachter: "Wir sprechen nicht von Schuld", sagt Fürbeth. "Wir prüfen die Vermeidbarkeit des Unfalls."

Das heißt in diesem Fall: Der Kläger bekommt Recht. Ein Verkündungstermin wird vereinbart, bei dem ihm Schmerzensgeld sowie die Reparaturkosten seines Autos zugesprochen werden.