Tanja Goncharova schaffte es mit ihrer Tochter und der kleinen Enkelin aus dem belagerten Kiew heraus.
Für Michelle ist es ein Spiel. Wenn die Sirene heult, gehen schnell alle in den Keller. Michelle ist ein Jahr und vier Monate alt. Ihre Eltern wollen nicht, dass ihr Angst macht, was um sie herum geschieht. Es ist die Zerstörung ihrer Heimat. Michelle wurde in Kiew geboren.
Nach Tagen und Nächten mit immer wieder Sirenenalarm, immer wieder Schutz suchen im Keller, entschloss sich die Familie zur Flucht für Michelle, ihre Mama Nastja und Oma Tanja. Tanja Goncharova hatte ein Ziel: Neustadt. Schon oft, war sie zu Besuch im Coburger Land. Sie begleitete als Dolmetscherin Kindergruppen, die zur Erholung zu uns kamen - eingeladen von der Tschernobyl-Kinderhilfe Neustadt. Vorsitzender Dieter Wolf hatte ihr sofort zu Beginn des Krieges angeboten zu kommen. Doch so einfach verlässt niemand seine Heimat. Und mit einem Kleinkind ist der Weg durch ein Land im Krieg ein Risiko, das niemand leicht nimmt.
Unter Beschuss durch die Stadt
Luftangriffe, Bomben, Raketen, Schüsse in den Straßen von Kiew... es galt, Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen. Tanja, ihre Tochter Nastja und ihre Enkelin Michelle sollten versuchen, nach Deutschland, nach Neustadt zu kommen. Ihre Männer fuhren sie im Auto zum Bahnhof. 40 Minuten dauerte die Fahrt durch die belagerte Millionenstadt. 40 Minuten, in denen sie immer wieder Schüsse und Explosionen hörten. "Wir haben die Augen zu gemacht und gehofft, wir sind bald durch", sagt Tanja. 20 mal wurden sie gestoppt. "Es sind überall Sperren der Freiwilligen, die die Stadt verteidigen. Sie haben unsere Pässe kontrolliert."
Am Bahnhof warteten Tausende auf einen Platz in einem Zug. Fahrkarten braucht niemand. "Wir haben einen Zug gesucht, der nach Polen fährt", sagt Tanja. Schließlich schafften sie es in einen der überfüllten Züge. Er fuhr nur bis Lwiw. Dort hieß es wieder warten, bis es weiter gehen kann in Richtung Polen. Schließlich kamen sie im Nachbarland an. "Wir wurden sehr gut aufgenommen und versorgt." Endlich ging es dann im Zug weiter bis Warschau. Doch es ist kaum in einen Zug nach Berlin zu kommen. Dann bekamen sie durch Glück Platz in einem Bus. "Der Fahrer ist kostenlos gefahren", sagt Tanja. In Berlin warten hilfsbereite Freiwillige auf die Ankommenden. Sie helfen rund um die Uhr Flüchtlingen weiter zu kommen.
Nur die Frauen und Kinder fliehen
So bekamen Tanja, Nastja und Michelle einen Platz im Zug nach Coburg - ohne Ticket. Am Bahnhof wartete dann Dieter Wolf auf sie. "Nach der langen Reise waren die drei völlig am Ende, liefen nur noch wie Roboter", schildert er seinen Eindruck. Er hat bereits eine Wohnung für die Familie gefunden. Ebenso für eine ganze Reihe anderer geflüchteter Familien. Sein Telefon steht kaum still. Hilfsbereite Menschen bieten Wohnungen an, fragen, was gebraucht wird und wollen spenden. Im Flur stapeln sich Pakete, die spontan bei ihm abgegeben wurden. Tanja und Nastja versuchen unterdessen, zu erfahren wie es ihren Männern geht, die in Kiew geblieben sind. Für die beiden Frauen ist das selbstverständlich. "Die Männer müssen bleiben, sie müssen die Ukraine beschützen." Auch in den Zügen in Richtung Polen habe sie sie so gut wie keine Männer gesehen.
Erinnerung an ein geschundenes Land
Was sie gesehen hat, das ist ihre geschundene Heimat. "Rund um Kiew sind kleine Dörfer nicht mehr da", sagt sie. Ganze Ortschaften seien von den Invasionstruppen dem Erdboden gleich gemacht worden. Viele Brücken und Straßen sind zerstört. "Die Soldaten plündern Läden, weil sie nicht verpflegt werden", schildert sie ihre Beobachtungen.
Sorgen um die Zukunft
Die weitere Entwicklung macht ihr Sorgen. Sie weiß: "Die Ukrainer werden nicht aufgeben, niemals." Sie erkennt aber auch, dass es für Russland kaum eine Option sein kann, sich zurückzuziehen, ohne irgendwelche Erfolge erzielt zu haben. Ihre Sorge gilt vor allem ihrer Heimatstadt Kiew und den Lieben, die dort geblieben sind. Die Zerstörungen sind schon jetzt enorm.