Ukraine-Krieg: "Dort wird auf Zivilisten geschossen"

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Aktuell wird das Militär im Zentrum von Berdjansk zusammengezogen. Was Russlands nächste Schritte sind, ist unklar.
Aktuell wird das Militär im Zentrum von Berdjansk zusammengezogen. Was Russlands nächste Schritte sind, ist unklar.
Quelle: Olga Winderlich
Zerstörte Brücke, angeblich nahe der Stadt.
Zerstörte Brücke, angeblich nahe der Stadt.
Quelle: Olga Winderlich
Olga und ihr Sohn Mischa auf einem älteren Foto.
Olga und ihr Sohn Mischa auf einem älteren Foto.
Quelle: Olga Winderlich
Berdjansk, eine Hafenstadt im Osten der Ukraine, etwa in der Mitte des Küstenstreifens am Asowschen Meer mit rund 115000 Einwohner, wurde am 27. Februar als eine der ersten ukrainischen Städte vom russischen Militär eingenommen.
Berdjansk, eine Hafenstadt im Osten der Ukraine,  etwa in der Mitte des Küstenstreifens am Asowschen Meer mit rund 115000 Einwohner, wurde am 27. Februar als eine der ersten ukrainischen Städte vom russischen Militär eingenommen.
Grafik: Franziska Schäfer

Die Frau eines Coburgers sitzt in der Ostukraine fest. Sie berichtet von Schüssen auf fliehende Menschen und toten Zivilisten.

Als sich die Lage in der Ukraine vor wenigen Wochen immer weiter zuspitzt, sagt Lutz Winderlich zu seiner Frau Olga, die sich derzeit mit dem Sohn (13) in Berdjansk befindet, dass sie zurück nach Coburg kommen sollen. Sie antwortet ihm: "Das ist unsere Heimat. Wir verlassen das Schiff jetzt nicht wie Ratten." Heute wissen sie: "Wir haben die Situation leider Gottes unterschätzt." Die Ereignisse hätten sich innerhalb weniger Tage überschlagen, es sei alles so schnell gegangen. "Wir haben es noch über das auswärtige Amt versucht. Aber es war kein Herauskommen mehr möglich."

Berdjansk, eine Hafenstadt im Osten der Ukraine, etwa in der Mitte des Küstenstreifens am Asowschen Meer mit rund 115000 Einwohner, wurde am 27. Februar als eine der ersten ukrainischen Städte vom russischen Militär eingenommen. Die Bevölkerung, sagt Lutz Winderlich, habe keinen Widerstand geleistet, aber: "Das sind zu 99 Prozent Ukrainer, die sich als Ukrainer fühlen." Und seine Frau samt Sohn sitzen, wie der Rest der Bevölkerung, in Berdjansk fest. Die Stadt sei abgeriegelt, Bahngleise, Brücken sowie der Hafen seien zerstört worden. Das Militär, sagt Lutz Winderlich, kontrolliert alle Ausfahrten. Wer dennoch versucht, zu fliehen, berichtet der Coburger, werde mit Waffengewalt daran gehindert. "Dort wird auf Zivilisten geschossen." Diese Angaben lassen sich nicht abschließend überprüfen.

Im Internet kursiert mittlerweile zudem ein Video, in dem unbewaffnete Ukrainer den russischen Soldaten in Berdjansk mutig entgegentreten. Ein Mann spricht einen Soldaten direkt an, sagt ihm "Seid ihr nicht unsere Brüder?" und "Willst du mich erschießen? Ich bin unbewaffnet."

Das Video ist mittlerweile weltberühmt. Doch es kursieren im Internet und auf diversen Nachrichtenkanälen inzwischen noch weitere Videos, die immer wieder völlig zerstörte Autos irgendwo auf dem Feld zeigen. Woher die Videos genau stammen, kann ebenfalls nicht verifiziert werden, wann sie aufgenommen wurden und von wem. Eines zeigt einen silbernen Mercedes oder - anders gesagt - das, was davon übrig ist.

Eine Ukrainerin nähert sich dem Wrack mit der Handykamera, filmt das Wageninnere. Das Video, so habe es Olga Winderlich ihrem Mann berichtet, soll sechs Kilometer außerhalb von Berdjansk aufgenommen worden sein und das Ergebnis eines Panzerwerfers zeigen, mit dem russische Soldaten auf Zivilisten gefeuert haben, die versucht hätten, trotzdem aus der Stadt zu entkommen. Der Vorderraum ist bedeckt mit Blut und Leichenteilen. "Die Angehörigen wollten sie bergen. Doch da war nichts mehr, was sie hätten bergen können."

Ein Foto, das eine Bürgerin aus Berdjansk am Mittwoch auf Facebook gepostet hat, zeigt einen toten Mann auf dem Rücksitz eines ebenfalls demolierten, gelben Wagens. In seiner Jackentasche stecken noch Geldscheine. Auch dieses Foto soll aus dem Außenbezirk von Berdjansk stammen. "Die Russen wollen um jeden Preis verhindern, dass die Zivilisten die Stadt verlassen. Das wäre ja Landflucht", schildert Lutz Winderlich. Wer es dennoch versucht, werde von russischen Soldaten "eliminiert".

Unterdessen versteckt sich Olga Winderlich laut Aussage ihres Mannes mit ihrer Familie in Berdjansk in einer Garage. Die Fenster hätten sie zwar bereits vor Jahren vergittern lassen. "Aber wenn das Militär da rein will, schafft es das ohne Probleme." Die Strom- und Wasserversorgung sei weitestgehend ausgefallen, die Regale in den Supermärkten leer. "Die Soldaten haben die Supermärkte geplündert, weil sie von russischer Seite schlecht versorgt werden." Handynetze seien größtenteils abgeschaltet. Es gibt Tage, an denen es Lutz Winderlich nicht gelingt, seine Frau zu erreichen. Lediglich über Messengerdienste könne gelegentlich noch kommuniziert werden. Inzwischen sei im Rathaus von Berdjansk eine militärische Interimsregierung eingerichtet worden. Der Zwangsumtausch von ukrainischen in russische Pässe soll bereits begonnen haben. "Dann", befürchtet der Coburger, "wäre der Weg in Richtung Westen für die Menschen endgültig abgeriegelt."

Am Mittwochmittag erreicht Lutz Winderlich seine Frau kurz am Telefon. In der Stadt ist es größtenteils ruhig, berichtet sie. Allerdings würde das Militär seine Panzer im Zentrum von Berdjansk zusammenziehen. Warum, weiß sie nicht.

Wie soll es jetzt weitergehen? "Sie kommen da nicht raus. Es ist aktuell nicht möglich, einen Fluchtversuch zu starten." Während sich Lutz Winderlich um seine Frau und den Sohn sorgt, ist ihm wichtig, dass die Menschen folgendes erfahren: "Das ist kein sauberer Krieg, wenn auf Zivilisten, auf Frauen und Kinder geschossen wird."