Der Welt abhanden gekommen: Auferstehung gibt es nur aus dem Tod, wahre Lebensfreude nur im Kontrast zur Dunkelheit. Kunst und Musik schenken uns die Kraft, dies auszuhalten. Das Landestheater schenkt uns einen Abend für das Leben.
Wir amüsieren uns zu Tode. Sagte Neil Postman (1931 bis 2003) Aufsehen erregend im Jahr 1985. Was würde der amerikanische Medienwissenschaftler da erst heute, 30 Jahre später formulieren? - Alles Spaß, alles Event, Lachen, Lachen, Genuss, Party. Was heute zählt, ist der nächste Kick. Wer den nicht besorgt, wird bestraft mit sinkenden Einschaltquoten, geringerem Besucherzuspruch. Muss sich sofort rechtfertigen.
Das Landestheater Coburg etwa - kommt da mit "Kindertotenliedern" und neuer Musik von einem Claude Vivier, unter dem Titel "Der Welt abhanden gekommen", auch noch als frei assoziierende szenische Collage, die heute Abend wieder gespielt wird. Doch wer kommt da der Welt abhanden, etwa die zur Premiere vergangenen Samstag entschieden zu wenig Gekommenen, die dann beseelt gingen und noch tagelang im wunderbaren Klang dieses Abends schwebten?
Die Seele braucht Training Morgen feiern die Christen Auferstehung. Karfreitag und -samstag aber herrscht Tod im Ritus. Alle Religionen haben Zyklen, in denen sie sich rituell den Extremen des menschlichen Daseins nähern. Dazu sind sie entstanden. Im regelmäßigen Vergegenwärtigen übt der Mensch, das Leben auszuhalten. Er trainiert Leben, könnte man sagen im Geist unserer Zeit. Ohne Training verkümmern auch die Muskeln der Seele.
Nur dass es populär ist, sich der körperlichen Fitness bis zum Wahn hinzugeben, während derjenige schnell zum introvertierten Spinner, zum unangenehmen Spaßverderber wird, der den Blick ins Dunkle verteidigt als lebensnotwendig. Denn der Tod ist Fakt. Die Welt ist Werden und Vergehen, ob das unserem kleinen eingebildeten Ich passt oder nicht. Warum das so ist, konnte noch niemand erklären. Wir haben uns einzufinden. Basta. Mehr noch: Die Fähigkeit, den Jubel der Auferstehung erleben zu können, Glück erfassen zu können, hängt unmittelbar zusammen mit der Fähigkeit, auch das Dunkle, den Tod anzuschauen.
Zum Mensch geworden Der Mensch wurde zum Menschen, als er sich dieser Zusammenhänge bewusst wurde. Um sie auszuhalten, begann er, sich Religion, Kultur, Kunst zu schaffen. Das Theater war ursprünglich, bei den Griechen, Religion, Gottesdienst. Heute unterliegt es ebenfalls dem Zwang zum Event, zum Spaß. Womit nicht den Miesepetern das Wort geredet sein soll, nichts grundsätzlich gegen Vergnüglichkeit gesagt sei, gegen Heiterkeit, befreiende Fröhlichkeit. Eines gehört zum anderen.
Das Coburger Landestheater aber hat uns unmittelbar vor Ostern einen Dienst getan, der uns in höchster Schönheit, ja in zum Schaudern schönen Genuss durch das Tal der Trauer auf einen Gipfel freudvoller Lebensintensität führt, zu Momenten des Einsseins mit der Welt für diejenigen, die das zulassen.
Bodo Busse hat ein Kunst-Werk ins Leben gesetzt, das sich weit in die dunkle Seite unseres Lebens wagt. Und dann darüber hinaus. Leider hat da schon die Ankündigung gereicht, dass viele sich abwandten, nicht kommen wollten, nicht einmal die Mahler-Fans, die sonst nicht lange gerufen werden müssen. Doch, wie gesagt, wer am Ende "der Welt abhanden" kommt, bleibt die Frage.
Wunderschöne Musik Wer letzten Samstag zur Premiere kam, der tauchte mit den Rückert- und Kindertotenliedern von Gustav Mahler und erst Recht mit den ungemein packenden Klängen von Claude Vivier in den Schmerz des tiefsten Verlustes, den ein Mensch erleiden kann, den Tod geliebter Menschen, der eigenen Kinder im schlimmsten Fall. Wobei jede Geschichte vom Tod symbolisch stets auch auf die vielen "kleinen" Tode des Abschiednehmens im Leben zu sehen ist. Am Ende aber kann der Mensch nach solch einer "Feier" beruhigt aufstehen, zurückgeholt ins Eigentliche, kann auferstehen, durchströmt von Freude, wie sie die Kunst schenkt.
Wer hat Angst vor neuer Musik? Claude Vivier (1948 bis 1983) war ein Wandler an den Grenzen. Seine Musik ist nicht schrill und formlos, wie oft von neuen Kompositionen gemutmaßt wird. Sie ist frei in ihren neuen Klangerlebnissen, im Suchen von Lebensausdruck, sie ist an vielen Stellen bisher ungehört. Sie ist dabei schlichtweg wunderschön, schwebend, melodisch, einwebend in die Klänge, die Grenzen dieser Welt und unserer Wahrnehmung zumindest lockernd, wie es nur die Musik kann, die offensichtlich "wo anders her", aus einer Ander-Welt kommt.
Theater-Tipp "Der Welt abhanden gekommen" - Szenische Collage von Bodo Busse mit Texten von Mahsa Harati, Friedrich Rückert und Claude Vivier; Musik von Gustav Mahler (Rückert-Lieder, Kindertotenlieder) und Claude Vivier ("Lonely Child", "Bouchara")
Weitere Termine Samstag, 4. April, 20 Uhr, Sonntag, 26. April, 18 Uhr, Landestheater Coburg
Interpreten Engel der Geschichte: Petra Hoffmann, eine Frau: Kora Pavelic, ein Mann: Jirí Rajniš, Mutter: Mahsa Harati, Tochter: Assal Amir Atashani, Chor und Philharmonisches Orchester des Landestheater
Um Mitternacht
Hab' ich gewacht
Und aufgeblickt zum Himmel;
Kein Stern vom Sterngewimmel
Hat mir gelacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab" ich gedacht
Hinaus in dunkle Schranken;
Es hat kein Lichtgedanken
Mir Trost gebracht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Nahm ich in Acht
Die Schläge meines Herzens;
Ein einz'ger Puls des Schmerzens
War angefacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Kämpft" ich die Schlacht
O Menschheit deiner Leiden;
Nicht konnt" ich sie entscheiden
Mit meiner Macht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab" ich die Macht
In deine Hand gegeben:
Herr über Tod und Leben,
Du hältst die Wacht
Um Mitternacht. Friedrich Rückert