Erinnerung an den Beinahe-Atomkrieg

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Hier liefen die Ergebnisse der Luftraumüberwachung zusammen. Ein Angriff wäre Hunderte Kilometer vor Erreichen der Grenze erkannt worden.
Hier liefen die Ergebnisse der Luftraumüberwachung zusammen. Ein Angriff wäre Hunderte Kilometer vor Erreichen der Grenze erkannt worden.
D.Schulz
Dietrich Schulz (rechts) im Bunker der Luftraumüberwachung, seiner Dienststelle in den 80er Jahren.
Dietrich Schulz (rechts) im Bunker der Luftraumüberwachung, seiner Dienststelle in den 80er Jahren.
Archiv

Putin droht mit Nuklearwaffen - schon 1983 kam es durch Missverständnisse beinahe zum Atomkrieg. Ein damaliger Soldat aus Rödental erinnert sich.

"Able Archer", bei diesem Stichwort wird Dietrich Schulz nachdenklich. Es ist der Name einer Übung auf Nato-Seite. Sie löste am 9. November 1983 beinahe einen Atomkrieg aus. Dietrich Schulz war damals als Radarleitoffizier Kommandeur einer Einheit, die den Luftraum in Richtung der Ostblockstaaten zu überwachen und den Einsatz von Abfangjägern der Nato zu leiten hatte. Diese Maschinen konnten damals innerhalb von Minuten nach einem Alarm aufsteigen.

Simulation

"Able-Archer" sollte den Beginn eines Atomkrieges simulieren und helfen, das Vorgehen der Nato in einem solchen Fall festzulegen. "Wir mussten die Übung später mehrmals wiederholen", erinnert sich Dietrich Schulz. Es hatte sich herausgestellt, dass die Alarmschlüssel, die in dem Fall eingegeben werden mussten, zu lang und zu kompliziert waren.

Auf der Gegenseite war das, was sich da im Westen abspielte, nicht als reine Übung aufgefasst worden. Man hielt es für möglich, dass alles eine geschickte Tarnung für den bevorstehenden Erstschlag des Westens sei. Der Gegenschlag wurde umgehend vorbereitet - die betroffenen Truppenteile wurden in Alarmzustand versetzt. Es dauerte bis nach der Wende, ehe Dietrich Schulz aus erster Hand erfuhr, wie sich die Lage damals "drüben" anfühlte. Soldaten der Luftraumüberwachung der NVA wurden in die Anlagen der Bundeswehr eingewiesen. "Die haben uns erzählt, die waren damals schon in den Schutzräumen und dachten der Krieg fängt an."

Ein Mann reagiert richtig

Wenige Wochen zuvor schrammte die Welt ebenfalls knapp am nuklearen Desaster vorbei. Aufklärungssatelliten hielten Lichtreflexe in den USA für den Start von fünf Interkontinentalraketen. Dem russischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow ist es zu verdanken, dass der Weltuntergang verschoben wurde. Er führte den Befehl zum Gegenschlag nicht aus.

Am 1. September 1983 hatten russische Abfangjäger eine koreanische Linienmaschine abgeschossen. Die Lage zwischen Nato und Warschauer Pakt war also höchst angespannt, als "Able Archer" missverstanden wurde.

Was die Soldaten in den Bunkern der Luftraumüberwachung mitbekamen, blieb geheim. "Natürlich haben alle unsere Frauen gewusst, was wir machen", sagt Dietrich Schulz. Doch man kommt eben nicht vom Dienst nach Hause und sagt beim Abendessen: "Ach übrigens, heute wäre beinahe die Welt vernichtet worden." Mit Blick auf diese Vergangenheit erinnert Dietrich Schulz daran, dass heute kaum noch Schutzräume für einen militärischen Ernstfall zur Verfügung stehen. "Das ist eine Aufgabe, für so etwas zu sorgen. In der Schweiz steht für jeden Bürger ein Platz in einem Schutzbunker zur Verfügung." Dass eine friedliche Welt eine Illusion ist, zeige sich in diesen Tagen mehr als deutlich.

"Vorsicht mit Parallelen"

An diese dramatischen Tage kann sich auch Günter Verheugen erinnern, langjähriger Europa- und Außenpolitiker (SPD). "Aber wir sollten vorsichtig sein mit historischen Parallelen. Russland ist nicht die Sowjetunion. Die Welt ist nicht mehr in zwei gegnerische Machtblöcke geteilt und sehr viel komplizierter als damals", sagt er. Was es brauche sei Weitsicht und Mut - Weitsicht, wie sie John F. Kennedy bewiesen habe, der 1963 einen Neuanfang in den Ost-West-Beziehungen gesucht habe. Mut, wie ihn die Präsidenten Reagen (USA) und Gorbatschow (UdSSR) bewiesen, "die in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre durch Vereinbarungen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle den Kalten Krieg faktisch beendeten", sagt Verheugen.

Was also hilft? Reden, sagt Verheugen. Dass es nun schon Gesprächsbereitschaft zwischen Ukraine und Russland gebe, sei "unbedingt zu begrüßen". Schnelle Ergebnisse seien aber nicht zu erwarten, da völlig unrealistische Forderungen im Raum stünden. Die USA und ihre Verbündeten müssten zu diesen Gesprächen ermutigen. "Der Kriegsausbruch bedeutet nicht, dass die westliche Diplomatie jetzt Ferien machen kann." Alle nur irgendwie nutzbaren Gesprächskanäle müssten offengehalten werden, sagt Verheugen. Dialogbereitschaft müsse in beide Richtungen bestehen. Freilich: "Der totale Vertrauensverlust auf beiden Seiten macht die Sache sehr schwer."