Coburg liest: Übers Land und sehr in die Irre

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Peter Stamm zu Gast bei "Coburg liest". Foto: Carolin Herrmann
Peter Stamm zu Gast bei "Coburg liest".  Foto: Carolin Herrmann
 
 

Die Autoren-Gala der Coburger Literaturtage präsentierte den Schweizer Autor Peter Stamm, der schließlich kein "Erzählonkel" sein will.

Der Mann liefert alle Munition gegen sich selbst in großer Gelassenheit. Er erinnerte ein bisschen an Mister Spock in seiner interessierten Distanziertheit den beobachteten Phänomenen im Weltall, aber auch sich selbst gegenüber: Faszinierend. Peter Stamm ist kein einfacher Fall und führt in Grundsatzdiskussionen über die Funktion und Aufgaben von Literatur an sich.

Was aber wiederum ein spannendes Abschlussgespräch zur Autoren-Gala von "Coburg liest" am Donnerstag im gut besuchten kleinen Saal von St. Augustin unter der lebendigen Führung von Norbert Berger brachte. "Ich geb doch nicht den Erzählonkel, der sagt, wie die Leute lesen sollen", war eine der lapidaren Aussagen des im deutschsprachigen Literaturbetrieb hoch gehandelten Schweizers. Und auf die diversen Interpretationsversuche des Publikums zu seinem aktuellen Roman "Weit über das Land" antwortete er lächelnd: Wenn Sie das wollen. Ich lasse ihnen da alle Freiheit. Man muss es so nicht lesen. Schlimmer noch: Ohne dass ihn das groß irritiert, sagt er zu Fragen nach seinen Romanfiguren: "Ich weiß es einfach nicht. Ich kann ja nicht in ihren Kopf schauen."


Machen Sie doch, was sie wollen

Na klasse. Es muss ja tatsächlich Leute, Leser geben, die nicht erfahren wollen, wie eine Geschichte verläuft, die lieber alle Möglichkeiten in ihr sehen, die gerne rätseln. Schließlich ist das Leben ja auch so. (Nur brauch ich, um das zu erfahren, keine Literatur.)

Viele Autoren erzählen, dass sich ihre Figuren, ihre Geschichten oftmals auch zu ihrer eigenen Überraschung entwickeln. Das ist nachvollziehbar. Und jedes Buch entsteht in jedem Leser eigenständig, wird von jedem Leser miterschaffen. Denn die geistige Welt ist eine eigenständige Welt, und in welchem Ausmaß wir alle und speziell Autoren darin nur ein Instrument sind, bleibt eine ungeklärte philosophische Frage.

Aber wenn ein Autor distanziert zwischen den Möglichkeiten hin und her wandert, gar nicht auswählen will, führt er dann den Leser nicht schlicht an der Nase herum? Herrschaftszeiten, ist Thomas abgestürzt, tot und beerdigt oder nicht?

"Weit über das Land" ist eher eine aus dem Ruder gelaufene Kurzgeschichte im amerikanischen Sinne, ein Genre, das ja oft Unbestimmheit, rätselhafte Räume lässt. Doch auch für diesen Versuch, Stamms Werk zu fassen, ist es inhaltlich zu wahllos. Bei allerdings spannender Ausgangsfrage und schön geschrieben. Warum geht ein Mann, dem es gut geht, der viel erreicht hat, der seine Frau und seine Kinder liebt, einfach weg? Stamm las in Coburg auch aus einem früheren, ähnlich gelagerten Roman "Ungefähre Landschaft", der aber konkreter, fester wirkte.


Stil geht über Inhalt?

"Weit über das Land" aber, wahrlich: In knappen, schnell erfassenden Sätzen, mit präzise treffenden Bildern das Dasein auf den Punkt bringend, beschreibt Stamm die Ausgangslage des Buchhalters Thomas: Der Garten, das Haus, Rückkehr aus dem Urlaub, Erschöpfung, Sprachlosigkeit. Da steht er auf und geht, mit einem verwunderten Lächeln auf den Lippen, zum Gartentor hinaus, geht in die Dunkelheit, kaum etwas in der Tasche, planlos, erstaunt, verlässt "das Gravitationsfeld des Dorfes". Wir folgen Thomas durch die Landschaft, die ausgestorbene nächtliche Stadt, die Geräusche, die Müdigkeit, die Traurigkeit, fragen uns mit ihm, wie viel Kraft nötig sein muss, diese Ordnung, auch unsere Ordnung, aufrecht zu erhalten.

Wir gehen also mit Thomas übers weite Land, zielstrebig ziellos, sehen und sehen auch nicht mehr, denn Stamm dringt in seinem puren Registrieren nicht ins Innere. Vielleicht ist das ja auch gar kein Inneres, ist da ja nichts. Wenn Sie das so sehen wollen... würde Stamm darauf sagen.

Die Kapitel wechseln zwischen Thomas und seiner Frau Astrid, ihrer Verstörung, Einsamkeit, Gekränktheit bis zu dem Entschluss, Thomas "nicht kampflos ziehen zu lassen". Da sind dann schöne Sätze, Momente des Erkennens: Der Mann hatte seine alte Existenz abgestreift auf seinem Gang in die Berge. Doch: "Thomas ließ sich nicht aus ihrem Leben entfernen."

Das alles ist spannend. Doch am Ende, war da nun eine Leiche oder nicht? Lebt Thomas doch irgendwie weiter, irgendetwas Unbestimmtes tuend? Was ist real, irreal? Wenn es der Autor nicht weiß, ich kann es Ihnen auch nicht sagen, nur dass Peter Stamms Nicht-Roman eine Liebesgeschichte ist.

Ich weiß nur für mich, dass die Welt, das Leben genug Fragen und Möglichkeiten herumwirbeln, ich für mich gerne zu Ende gedachte Geschichten lese und erfahre. Aber das müssen Sie wiederum gar nicht so sehen. Auf keinen Fall. Da lasse ich Ihnen die freie Wahl. Immerhin schreibt Peter Stamm wie gesagt sehr schön.
Peter Stamm: Weit über das Land. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 223 Seiten, 19,90 Euro.

Peter Stamm, geboren 1963 in Scherzingen im Schweizer Kanton Thurgau, absolvierte eine kaufmännische Lehre und arbeitete zeitweise als Buchhalter. Auf dem zweiten Bildungsweg legte er die Matura ab. Nachdem Stamm 1987 ein halbes Jahr Anglistik an der Universität Zürich studiert und anschließend ein halbes Jahr in New York gelebt hatte, wechselte er das Studienfach aus literarischem Interesse auf Psychologie mit Psychopathologie und Informatik als Nebenfach; daneben war er als Praktikant an verschiedenen psychiatrischen Kliniken tätig.

Nach längeren Aufenthalten in New York, Paris und Skandinavien ließ sich Peter Stamm 1990 in Winterthur nieder. Hier war er vor allem als Journalist tätig, was ihm erstmals die Publikation seiner Texte ermöglichte. Stamms Bücher verkaufen sich fünfmal häufiger in Deutschland als in der Schweiz. Zu seinen erfolgreichsten Büchern gehören "Agnes". "Blitzeis", "Ungefähre Landschaft" oder "Sieben Jahre". Stamm hat auch zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele verfasst.