Angst um die Lieben bleibt

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Endlich zusammen. Dieter Wolf, die kleine Marianna und ihre Mutter Lina am Berliner Hauptbahnhof.
Endlich zusammen. Dieter Wolf, die kleine Marianna und ihre Mutter Lina am Berliner Hauptbahnhof.
Thomas Wolf.
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Lina und Marianna sind in Gedanken bei ihren Familien in der Heimat, die sich gegen die russischen Angreifer stellen.

Müde, erschöpft, aber glücklich, in Sicherheit zu sein - so kam am Mittwochmorgen Lina mit ihrer Tochter Marianna aus der Ukraine in Neustadt an. Dieter Wolf, Vorsitzender der Tschernobyl-Kinderhilfe Neustadt, hatte die beiden am Hauptbahnhof in Berlin abgeholt. Zuvor hatte er während ihrer Odyssee durch das umkämpfte Land nach Polen und weiter in Richtung Bundesrepublik ständig mit ihr in Verbindung gestanden.

Lina war 2007 unter den Gastkindern, die der Verein zur Erholung ins Coburger Land geholt hatte. Ihre Mutter gehört seitdem zu den vertrauten Kontaktpersonen von Dieter Wolf in der Ukraine. Als sie jetzt fragte, ob Lina und Marianna nach Neustadt kommen könnten, war es für Dieter Wolf keine Frage, sie aufzunehmen.

Malyn, die Kleinstadt, in der Lina lebte, gehört zu den Aufmarschrouten der russischen Truppen aus Weißrussland in die Ukraine. Ihr Bruder fuhr sie an die polnische Grenze. Zu Fuß kam sie nach Polen. Nach langem Warten in der Kälte an der Grenze kamen die beiden in einer Auffangstation an. "Wir fühlten uns dort wirklich willkommen, wir bekamen heißen Tee, Decken, etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen", übersetzt Natalia. Sie ist Mitglied im Verein Tschernobylhilfe und spricht Russisch. Fünf Stunden dauerte am Dienstag die Fahrt im Bus nach Warschau. Für die Fahrt im Zug nach Berlin war keine Fahrkarte nötig - was allerdings nicht jeder polnische Schaffner auch wusste.

"Gegen 23 Uhr kam der Zug dann mit Verspätung in Berlin an, dann mussten wir in den Menschenmassen aus dem völlig überfüllten Zug die beiden erst noch finden", sagt Dieter Wolf. Doch dann lagen sie sich endlich in den Armen und die Fahrt nach Neustadt brachte schon die erste Entspannung. Jetzt ist Lina mit ihrer Tochter in Sicherheit.

Nächte voller Angst in Kellern

Die vergangenen Nächte und die meiste Zeit der Tage hatte die Familie im Keller von Linas Elternhaus verbracht. "Immer wieder haben wir Schüsse und Explosionen gehört", sagt sie. Jetzt hält sie Kontakt zu ihrer Mutter, um auf dem Laufenden zu bleiben, wie es in ihrer Heimat steht. Sie weiß: "Alle stehen zusammen, wer nicht kämpfen kann, hilft anders. Frauen kochen für die Soldaten, andere helfen beim Graben von Schützengräben." Dass die Ukrainer aufgeben, sich Putins Truppen ergeben, das kann sie sich nicht vorstellen - auch nicht, wenn der nächst Anschlag auf Präsident Selenskyi Erfolg haben sollte. "Wenn sie ihn töten, wird der Widerstand nur noch stärker werden."

Lina zeigt ihr Handy. Auf Instagram hat ein Freund, Alexander Ignatenko, ein Foto gepostet. Es zeigt die Trümmer des Hauses, in dem er gewohnt hat. Er schreibt dazu: "Meine Großeltern waren Kriegskinder. Jetzt sind meine Kinder Kriegskinder." Einer von vielen Berichten über Einschläge in zivile Wohngebiete.

Aber Lina berichtet auch von Vorfällen, die zeigen, dass die russischen Truppen nicht geschlossen hinter dem Befehl zum Krieg gegen die Ukraine stehen. Sie berichtet von jungen Soldaten, kaum 20 Jahre alt, die ohne Waffe in der Hand in Städte kommen und sagen: "Wir wollen nicht hier sein, wir werden nicht kämpfen." Fahrzeuge, die ohne Treibstoff liegen bleiben, Truppenteile, die nicht wissen, wo sie sind und wo sie eigentlich sein sollten - viele solche Beobachtungen sprechen dafür, dass nicht alles auf russischer Seite so koordiniert abläuft, wie es von einer solchen Armee zu erwarten gewesen wäre. Dennoch ist für Lina auch klar: "Nichts davon ist eine Entschuldigung, für das, was getan wurde und getan wird." Sie denkt an ihre Heimatstadt Malyn: "Die Leute sehen die Raketen am Himmel. Es traut sich keiner auf die Straße, es gibt Sperrstunden und nichts zu kaufen, Häuser stehen in Flammen."

Dunkle Stunden in Kiew

Es gibt auch neue Nachrichten von Tanja, die schon mehrmals als Betreuerin und Dolmetscherin Gastkinder ins Coburger Land begleitet hat. Sie ist noch immer in Kiew und schreibt an Dieter Wolf: "Wir kommen nicht aus Kiew heraus. Bomben und Raketen schlagen ein. Die meisten Brücken sind zerstört. Unser Volk ist stark! Ich hoffe und bete." Dieter Wolf hatte ihr angeboten, sie bei sich aufzunehmen. Doch sie wollte ihre Familie nicht zurücklassen.

Wenn Lina an ihre Freunde und Verwandten denkt, die sich den angreifenden Truppen entgegen stellen, kommen ihr die Tränen. Sie fürchtet jeden Tag, es könnten schlimme Nachrichten kommen. Ein Schicksal, das sie mit Hunderttausenden teilt, die bereits die Ukraine verlassen haben. Hunderttausende, denen aber auch eine große Hilfsbereitschaft begegnet.

Während des Gesprächs laufen immer neue Anfragen aus Dieter Wolfs Drucker. Innerhalb weniger Stunden gibt es ein halbes Dutzend Angebote, jemandem eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Ständig klingelt das Telefon, weil Menschen auch weit über Neustadt hinaus dem Verein Geld oder Sachspenden anbieten wollen. "Die wissen, dass wir zuverlässige Kontakte in die Ukraine haben und dafür sorgen, dass alles dort ankommt, wo es gebraucht wird", sagt

Dieter Wolf.

Unterdessen nutzt er Natalias Anwesenheit als Übersetzerin, um wichtige Fragen abzuarbeiten, die er sich vor Linas Ankunft überlegt hat. "Haben die beiden irgendwelche Allergien, brauchen sie bestimmte Medikamente, was essen sie am liebsten und was mögen sie gar nicht...?" Noch ist unklar, wie lange Lina und Marianna bleiben müssen. Doch eines ist für die junge Mutter ganz klar: "Ich will zurück nach Hause, sobald es möglich ist." Und Dieter Wolf verspricht ihr für diesen Tag: "Wir werden euch persönlich nach Hause fahren."