Mindestlohn: Ein Bamberger berichtet von einer verunsicherten Jugend

3 Min
Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland steigt Anfang 2017 auf 8,84 Euro. Foto: Arno Burgi/dpa
Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland steigt Anfang 2017 auf 8,84 Euro. Foto: Arno Burgi/dpa

Rechtliche Grauzonen, Gesetzeslücken und Betrug beim Mindestlohn treffen eine Generation, die sich nach Sicherheit sehnt. Ein Beispiel aus Bamberg.

Adrian Nestmann ist kein typischer Mindestlöhner. Oder vielleicht doch. Der Bamberger hatte im vergangenen Jahr einige Stellen. Er ist Student und wird in keinem dieser Niedriglohnjobs sein Leben lang arbeiten - genau wie die meisten anderen der 3,7 Millionen Mindestlöhner in Deutschland. Sie machen fast zehn Prozent der Erwerbstätigen aus.

"Ich selbst kann es ja nicht mit früher vergleichen, aber den Erzählungen nach hatte man da irgendwann eine Arbeit und die hat man dann bis zur Rente gemacht. Das hat sich verschärft", sagt Nestmann. Der 21-Jährige gehört einer Generation an, die sich auf viele verschiedene Arbeitgeber einstellen muss. "Wenn ich die Wirtschaftsnachrichten lese und es um Flexibilisierung geht, hört sich das erst mal toll an. Aber für die Leute ist es schwierig, sich immer wieder umorientieren zu müssen." Bei seinen Jobs begegnete Nestmann Kollegen in seinem Alter, die mehrmals arbeitslos gewesen sind - teils trotz Ausbildung, Fortbildung und Zweitausbildung.
Zeitarbeit, Produktionsverlagerung ins noch billigere Ausland, Existenzsorgen - alles Dinge, an die sich die Beschäftigten im Niedriglohnbereich gewöhnen müssen. So wie an den möglichst niedrigen Lohn.


Und dann auch noch Regen

Im vergangenen Monat arbeitete Nestmann im Gartenbau. Täglich vier Stunden Unkraut jäten, Kisten tragen, Erdbeerpflücken. Es ist schwere Arbeit, vor allem, wenn es so viel regnet wie in diesem Jahr. Trotzdem gibt's nur acht Euro in der Stunde - 50 Cent weniger, als der gesetzliche Mindestlohn vorschreibt. Das ist legal, wie der Bamberger Arbeits- und Sozialrechtler Ulrich-Arthur Birk erklärt. Spezielle Branchen wie Gartenbau und Landwirtschaft, Zeitungszustellung und beispielsweise auch die Textilindustrie in Ostdeutschland fallen unter eine Sonderregelung. "Bei der Einführung des Mindestlohnes Anfang 2015 wurde vereinbart, dass Tarifverträge, die 8,50 Euro unterschreiten, weiter gelten", erklärt der emeritierte Professor.


Kleingewerbetreibende, Scheinselbstständige und Freiberufler

"Ab 1. Januar 2017 müsste jeder den Mindestlohn bekommen." Voraussetzung ist aber erst einmal, dass er unter den Geltungsbereich des Mindestlohnes fällt, und dieser umfasst seinem Bestimmungszweck entsprechend nur Arbeitnehmer. Schwammig wird's bei den Kleingewerbetreibenden, die mit Hartz-IV aufstocken, weil ihr Einkommen unter dem Existenzminimum liegt. Dann gibt es die Scheinselbstständigen, bei denen der Arbeitgeber sich um Mindestlohn und Sozialabgaben drückt. Eine Form von Betrug, die selten vor Gericht kommt, wie Birk, der auch als Rechtsanwalt arbeitet, bestätigt. "Außerdem haben viele Selbstständige ein Einkommen, von dem sie leben können - aber wenn man die Stunden aufrechnet, liegen sie unter dem Mindestlohn." Birk spricht von selbstständigen Taxifahrern, Gastwirten. Oft trifft dieses Problem junge, gut Ausgebildete: Freiberufler im Bereich der Internetdienstleistungen kommen nicht immer auf 8,50 Euro in der Stunde. Reihenweise arbeiten Webdesigner, Mediengestalter und Texter 60 Stunden, um über die Runden zu kommen.

Adrian Nestmann studiert Geschichte. Er geht nicht davon aus, dass er es als Akademiker nach dem Abschluss leicht haben wird. Befristete Stellen sind üblich, begehrte Dozentenposten schlecht bezahlt. "Es wird alles immer unsicherer. Und das betrifft alle, geht uns alle an."


Fabrikarbeit und Bundeswehr

Nestmann erzählt von Arbeitskollegen, die er in einer Fabrik kennen lernte. Als er einen Tag vorlesungsfrei hatte, arbeitete der Student freitags und samstags je acht Stunden über eine Leiharbeitsfirma bei einem Automobilzulieferer. "Da gab es Leute, die hatten aus gesundheitlichen Gründen eine Unterbrechung und haben danach nichts mehr gefunden. Einer erzählte, dass er aus mangelnder Perspektive überlegt, zur Bundeswehr zu gehen. Ich finde solche Lebensgeschichten heftig. Jemand in meinem Alter, mit Ausbildung!" Adrian Nestmann ist froh, dass der Mindestlohn zum 1. Januar 2017 steigt. Er hofft, dass die Grauzonen langsam weniger werden.

Lesern Sie hier im Interview, was der Bamberger Sozialrechtler Ulrich-Arthur Birk zum Mindestlohn sagt.


Einige Ungereimtheiten beim Mindestlohn

Berechnungsgrundlage Stück-, Akkord- und Monatslohn sind rechtens, wenn unterm Strich pro Stunde ein Verdienst von mindestens 8,50 Euro herauskommt. Der Bamberger Sozialrechtler Ulrich-Arthur Birk erklärt, dass ein niedrigerer Stundenlohn häufig durch verschiedene Deklarationen kaschiert wird. Zum Beispiel zeigt erst die genaue Berechnung der Umsatzbeteiligung einer Frisörin, dass sie weniger als den Mindestlohn bekommt. "Dann gilt wie oft: Wo kein Kläger, da kein Richter."

Anrechnung Zulagen sind anrechenbar, sofern sie nicht zu einem besonderem gesetzlichen Zweck bestimmt sind: Schicht- und Nachtzuschläge dürfen nicht angerechnet werden. Weihnachtsgeld, das im Dezember gezahlt wird, darf nur in diesem Monat auf den Mindestlohn angerechnet werden. Deshalb versuchen einige Arbeitgeber, Weihnachts- und Urlaubsgeld auf zwölf Monate zu verteilen. Außerdem muss jede geleistete Stunde (auch Bereitschaftsdienst) bezahlt werden - eine Klausel wie "Überstunden sind mit dem Lohn abgegolten" ist unwirksam.

Sozialabgaben Vor 20 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Staat das Existenzminimum nicht besteuern darf, weil sonst der fehlende Betrag mit Sozialhilfe aufgestockt werden müsste. Schwellenwert für das Existenzminimum ist ein Bruttoverdienst von 8652 Euro. "Das müsste auch in der Sozialversicherung beitragsfrei gestellt werden." Derzeit werden 1788,80 Euro Sozialabgaben abgezogen - der Arbeitnehmer muss Hartz IV beantragen. Birk findet, dass der Staat die Beiträge übernehmen müsste.