In einer israelischen Küstenstadt hütet ein 88-Jähriger ein kleines, abgegriffenes Gebetbuch wie einen Schatz. John Katten erinnert dieser Siddur an seine Kindheit in Franken, an seinen Vater – und an die kalte, klare Nacht im November 1938, in der die Nazis zur offenen Gewalt gegen Juden übergingen.
John Katten steht vor den Booten des Jachthafens von Herzlia, einer mediterran geprägten Stadt an der Küste Israels. Hier ist er gestrandet. 84 Jahre alt, ein pensionierter Architekt, der als Zehnjähriger sah, wie eines der imposantesten Gebäude Bambergs brannte: die Synagoge. "Es war eine kalte, klare Nacht." Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.
John hieß damals Hans, sein Vater Max Katten war Rabbiner der Bamberger Gemeinde. Gegen Mitternacht kam der Anruf: Die Synagoge brennt. Hans schlich sich raus und fuhr mit dem Rad hin. "Die Deutschen feierten die Zerstörung unseres Gotteshauses. Feuerwehrleute standen dabei, um zu verhindern, dass der Brand auf andere Gebäude übergriff." Am Morgen pochte es an der Wohnungstür der Familie am Schillerplatz. Zwei Polizisten führten den Rabbi ab. Hans folgte ihnen auf die Straße.
"Einer nahm meinem Vater seinen Siddur, sein Gebetbuch, ab und schlug es ihm auf den Kopf." Mit dem Buch stolperte Hans zurück zur Mutter. Sein Vater wurde wie die anderen jüdischen Männer ins KZ Dachau deportiert.
Der 88-Jährige an der Hafenpromenade von Herzlia hält den abgegriffenen Siddur auf Brusthöhe und richtet den Blick starr in die Kamera. Das Foto geht per Email nach Bamberg. Katten schreibt dazu, dass er das Gebetbuch seines Vaters über die Jahre wie einen Schatz aufbewahrt hat. Er gibt gern Auskunft, beantwortet Fragen, schickt weitere Bilder, freut sich, dass die Geschichte seiner Familie in Franken interessiert. Dass nicht vergessen wird.
"Der Beginn des Holocaust" Bamberg, Hirschaid, Bad Brückenau, Baiersdorf, Kitzingen, Coburg - in ganz Deutschland brannten in der Pogromnacht jüdische Gotteshäuser.
In einigen Orten (beispielsweise Forchheim) wurde die Synagoge am 10. November gesprengt. Friedhöfe wurden geschändet, Geschäfte und Wohnungen geplündert und demoliert. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mehr als 1300 Menschen bei den deutschlandweit organisierten Ausschreitungen ums Leben kamen - nicht eingerechnet Fälle wie den des Bamberger Gemeindevorstehers Willy Lessing, der zwei Monate nach der Pogromnacht an den Folgen der Misshandlung starb.
"Die Kristallnacht, wie die Nazis es nannten, war der Beginn des Holocaust." 30.000 wurden in folgenden Tagen in Konzentrationslager verschleppt, darunter Max Katten. "Als mein Vater sechs Wochen später zurück kam, sah er aus wie ein Gespenst. Er war ein Schatten seiner selbst."
John Katten erinnert sich gut an diese Zeit. Die Kindheit mit Schlittenfahren und Schwimmbad, Spaziergängen und Einkehr in fränkischen Wirtshäusern - endgültig vorbei.
Seine ältere Schwester Marianne war damals bereits sehr verschlossen, und Oma Nanni verließ ihr Zimmer kaum noch. "Die Vorhänge waren immer zugezogen. Sie wirkte depressiv."
Cowboy-Träume Die Familie bemühte sich um Visa nach Amerika. "Meine Eltern sagten, dass Tante Esther ein Pferd für mich hat. Ich sah mich schon als Cowboy." Zwar hatten Kattens die für die Einreise nötige eidesstattliche Erklärung, dass die Verwandten finanziell für die Flüchtlinge sorgen, aber die Warteliste für das Jahr 1939 war voll. "Meine Mutter drängte uns, Deutschland sofort zu verlassen." Über Beziehungen zum britischen Oberrabbiner erhielt die Familie zeitlich befristete Visa für England. Im März 1939 flogen Hans, seine Schwester und sein Vater nach London.
Wilma Katten war bei ihren Eltern in Budapest - und erreichte England von dort "zwei oder drei Tage bevor der Krieg ausbrach".
John Katten erzählt davon, wie sein "sehr deutscher Name" Hans in der englischen Schule zu John wurde, von der Zeit des Blitzkriegs in London, von einer Italienerin, die der Familie half, obwohl ein Gespräch nur auf Latein möglich war, von Lebensmittelrationierung und Sirenen. Warum Oma Nanni nicht mitkam, weiß er bis heute nicht.
Akribisch sammelt und dokumentiert er die bekannten Daten, Fotos und Erinnerungsstücke wie den Siddur. Für die Enkel. 1958 heiratete John Katten in England. Er hat zwei Söhne, eine Tochter und acht Enkel. Nach 40 Jahren zog er mit seiner Frau Brenda an die israelische Küste, nach Herzlia.
"Hier habe ich viel Zeit zum Malen", berichtet der 84-Jährige. An diese Email hängt er Bilder an.
Eines hat er "Meine Geschichte" genannt: links die brennende Bamberger Synagoge, gegenüber blauer Himmel über der ruhigen See bei Herzlia. "Und unsere Enkel spielen am Strand." Darüber ein Vogel - "Weiße Taube" hieß in den 1930er Jahren ein Gebäude der israelitischen Kultusgemeinde Bamberg. Es war das erste Ghetto der Stadt und ab November 1941 Sammlungsort für Deportationen von Juden aus fränkischen Städten wie Coburg, Bayreuth, Nürnberg.
John Kattens Großmutter Nanni wurde am 5. März 1943 in Theresienstadt umgebracht. In Bamberg erinnert seit ein paar Wochen ein goldener Stolperstein vor dem Haus am Schillerplatz an sie. In Herzlia gibt es viele Erinnerungsstücke.
Eines ist das Gebetbuch: Max Katten, der letzte Rabbiner der alten Bamberger Synagoge, vermerkte darin den Todestag seiner ermordeten Mutter.
Die Pogromnacht Das Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris nutzten die Nationalsozialisten als Vorwand, um zwei Tage später zur offenen Gewalt gegen Juden überzugehen: Im ganzen Land wurden in geplanten und organisierten Aktionen Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert und zerstört. Die Gewaltakte zogen sich noch Tage hin. Das öffentliche Leben der Juden in Deutschland kam nach den Pogromen völlig zum Erliegen. Drei Jahre später begann der systematische Massenmord mit dem Ziel der vollständigen Vernichtung der Juden Europas.