Vor 75 Jahren befreiten die Amerikaner das KZ Dachau. Einer der Überlebenden war Gleb Rahr. In den Wirren nach dem Krieg verschlug es den Exilrussen an die russisch-orthodoxe Kirche in Bad Kissingen - der Beginn einer lebenslangen Verbundenheit.
Als die Gestapo Gleb Rahr im Juni 1944 verhaftet hat, war der im Deutschen Reich im Exil lebende Russe noch keine 22 Jahre alt. Für ihn begannen damit die qualvollsten Monate seines Lebens. Das Leiden endete für ihn erst, als amerikanische Soldaten am 29. April 1945, also vor genau 75 Jahren, das Konzentrationslager Dachau bei München befreiten. Gleb Rahr war ausgehungert, thyphuskrank und am Ende seiner Kräfte, aber immerhin am Leben. Und er erholte sich. Gleb Rahr lebte auch nach dem Krieg bis zu seinem Tod im Jahr 2006 in Deutschland. Bad Kissingen war er über die russisch-orthodoxe Kirche in der Salinenstraße in besonderer Weise verbunden.
Der Tag der Befreiung hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Niedergeschrieben hat er ihn in seinen Memoiren: "Ich liege halb bewußtlos auf der unteren Liegepritsche. Mit einem Male erwache ich durch einen Schrei, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gehört hatte. Einer der Häftlinge hatte auf der anderen Seite des Stacheldrahtverhaus die ersten amerikanischen Soldaten bemerkt. Gellend schrie er: "Ah-ah-ah!" [...] In wenigen Sekunden stimmten sich in dieses "ah-ah-ah!" Dutzende, bald Hunderte, dann Tausende und schließlich alle 32 500 Häftlinge des Lagers Dachau ein. [...] Es war die unisono vorgetragene Hoffnung aus zweiunddreißigeinhalb Tausend Mündern." Mit letzter Kraft schleppten sich die Häftlinge zum Lagertor. Sie sahen, wie die Soldaten ins KZ eindrangen. "Ich nannte sie bewusst nicht Soldaten, sondern Soldatenjungs, denn vor dem Hintergrund der grauen ausgemergelten Gesichter der Häftlinge erinnerten sie mit ihren roten Bäckchen eher an zwölfjährige Jungen. [...] Ich fühlte mich bald so schwach, dass ich in meine Baracke zurückkehrte."
Der Journalist setzte sich sein ganzes Leben für ein freies Russland ein. "Das Exil sah er nur als vordergründig an. Er hatte immer die Hoffnung, dass er in freies Russland zurückkehren würde. Dieser Gedanke hat sein Leben bestimmt", erzählt sein Sohn Dimitrij Rahr im Gespräch mit der Redaktion. Außerdem war er ein sehr gläubiger Mensch. Der Einsatz für Russland brachte ihn ins KZ, der Glaube führte ihn nach dem Krieg nach Bad Kissingen.
Gleb Rahr kam 1922 in Moskau zur Welt. Die Familie wurde als Klassenfeind ins Exil vertrieben, Rahr wuchs in Lettland auf. Im Zweiten Weltkrieg waren die Rahrs aufgrund ihrer deutsch-baltischen Abstammung gezwungen, ins Deutsche Reich umzusiedeln. Dort schloss sich die Familie dem NTS an, dem Bund der russischen Solidaristen. Die Vereinigung unterstützte im Krieg die Russische Befreiungsarmee gegen die kommunistischen Machthaber. 1944 war die Organisation den Nazis ein Dorn im Auge, einige Mitglieder, darunter Gleb Rahr, wurden verhaftet. "Man nahm ihm das Kreuz ab, das er trug. Das hat er natürlich nie wieder gesehen", erzählt Dimitrij Rahr.
Gleb Rahr war in verschiedenen KZs inhaftiert, unter anderem in Buchenwald. Als die Nazis das Lager evakuierten, wurde er im Todeszug von Buchenwald nach Dachau deportiert. Nur die wenigsten Häftlinge überlebten die Fahrt, und auch Gleb Rahr brauchte viel Glück. "Häftlinge wurden aus nichtigem Anlass von SS-Leuten erschossen", sagt Dimitij Rahr. Auch sein Vater sei bedroht worden. Er hätte einen Mithäftling verraten sollen, der angeblich fliehen wollte und dafür exekutiert wurde. Aufgrund einer Verwechslung kam er knapp davon.
"Meine Großeltern hatten ihn schon aufgegeben und dachten, er wäre tot", berichtet Dimitrij Rahr. Die Familienmitglieder hatten vereinbart, dass sie sich in Unsleben im Landkreis Rhön-Grabfeld wiedertreffen wollten, wenn der Krieg vorüber ist und sie noch am Leben sind. Dort lebte weitere Verwandtschaft. Gleb Rahr schaffte es, dem Transport in die Sowjetunion zu entgehen und gelangte mit einem Güterzug nach Schweinfurt. Im Sommer 1945 sah er in Unsleben seine Familie wieder. "Mein Vater und mein Onkel sind dann am 7. Juli nach Bad Kissingen zur russischen Kirche gefahren, um aus Dank zu beten", sagt Dimitrij Rahr. "Deswegen fühlte er sich der Kirche und Bad Kissingen bis an sein Lebensende verbunden."
So oft er konnte, besuchte Gleb Rahr die für ihn so wichtige Kirche. Ab den 1980er Jahren leitete er die Bruderschaft des heiligen Fürsten Wladimir, also den Verein, dem die russisch-orthodoxe Kirche in Bad Kissingen gehört. Bis 2004 setzte er sich so für die Kirche ein. Danach hat Dimitrij Rahr den Vorsitz über die Bruderschaft übernommen. Er ist seitdem Chefkümmerer der Kirche und kommt regelmäßig in die Kurstadt.