Es gibt zwei Gründe, warum Michael Schneider unter der Sinntalbrücke steht und die Bohrlöcher füllt. Der eine ist die "Affenliebe" zum Beruf - wie er es nennt. Der andere hat mit der Wende 1989 zu tun.
Es ist heiß auf der Baustelle unter der Sinntalbrücke. Staub wirbelt auf, wenn die Lkws über die Piste fahren oder die Bagger die nächste Ladung Erde auf die Fallbetten schütten, die die Brücke abfangen sollen. Unter einem Pfeiler steht ein Transporter. Er hat unscheinbare Kartons an Bord. Gelbe Kabel - es sind Zündschläuche - liegen am Boden. Und irgendwo dazwischen steht Michael Schneider. Er ist der Sprengberechtigte - oder Sprengmeister, wie der Volksmund sagen würde - und dienstältester Mitarbeiter der Thüringer Sprenggesellschaft.
Schneider geht zum Wagen und öffnet einen der Kartons. Kleine Rollen kommen zum Vorschein, die mit einer Masse gefüllt sind, die an Knete erinnert - oder an Kaugummi mit Himbeer-Geschmack, so rosa sind sie. Doch es ist Sprengstoff. 25 Kilogramm passen in einen Karton. Zehn Kartons wird Schneider brauchen, um alle 2500 Bohrlöcher zu füllen. So viele sind es ungefähr. Seine Männer arbeiten Tag und Nacht. Und wenn sie nicht arbeiten, dann bewacht einer die Baustelle, denn die rosa Masse darf alles, nur nicht in falsche Hände geraten.
Auf die Millisekunde genau
"Man muss schon eine Affenliebe zum Beruf haben", sagt Schneider trocken. Zu anspruchsvoll sei die Arbeit, auf Dauer zehre sie einen auf. Schneider ist 52. Ein "alter Bergmann", der zehn Jahre unter Tage Schiefer abgebaut hat in Thüringen. "Sprengstoff gehört beim Bergmann zum Handwerkszeug wie das Mehl beim Bäcker", sagt er. "Die Bergleute sind ein Völkchen, das zusammengeschmiedet ist. Das sind wir hier auch." Auf der Baustelle. Auf all den Baustellen, die Schneider betreut hat, seit er 1991 zur Sprengung über Tage gewechselt ist.
Schneider nimmt ein rotes Kabel in die Hand, das an einem Pfeiler angebracht ist. Es ist die Sprengschnur, mit der die gelben Zündschläuche verbunden sind. Deren Enden stecken wiederum in den Sprengstoff-Rollen. Die sind mit Bauschaum in den einzelnen Löchern befestigt. Was sich als buntes Muster über den Pfeiler zieht, funktioniert alles ohne Strom. Innen sind die Schnüre mit Sprengstoff ausgedampft. Ein elektronischer Impuls genügt und schon geht die Sprengpatrone hoch.
Eine gewisse Aufregung ist da
Gezündet wird freilich per Computer. "Die elektronischen Zünder werden erst unmittelbar vor der Sprengung angebracht", erklärt Schneider. Deren Chips sind auf die Millisekunde genau programmiert. Wenn das elektronische Signal auf die rote Sprengschnur trifft, explodieren die Patronen und sprengen einen Keil heraus, das so genannte Sprengmaul. Der Pfeiler klappt zusammen. Faltsprengung nennen die
Experten das.
Als damals, 1989, die Mauer fiel, da "öffnete sich die große, weite Welt für uns DDR-ler". Michael Schneider beschloss, diese Welt kennenzulernen. Und zwar "außerhalb von 14 Tagen Urlaub". Abbruch-Sprengung reizte ihn. Und da die meisten Spreng-Leute Quereinsteiger sind - damals kamen sie aus dem Bergbau, heute kommen sie vor allem vom Bau oder vom Militär - wagte er den Sprung. 1990 wurde die Thüringer Sprenggesellschaft gegründet, ein Jahr später stieß Schneider dazu.
Eine gewisse Aufregung aber bleibt, auch nach 30 Jahren Spreng-Erfahrung. Er nennt es nicht Nervosität. Eher höchste Sensibilität. Denn es darf kein Fehler passieren. "Wenn der Knopf einmal gedrückt ist, gibt es kein Zurück." Zum Abschied wünscht der alte Bergmann über Tage noch "Gut Schuss!" für Samstag. "Hals- und Beinbruch kann ich ja schlecht wünschen", fügt er mit einem Grinsen hinzu.