Auch im Landkreis existiert eine Parallelwelt, die für die meisten Menschen verborgen bleibt: Eine Welt aus Obdachlosigkeit, Drogen und Prostitution.
Mia ist 18 Jahre. Christian Fenn hat sie bei seiner Arbeit bei der Drogenhilfe des Bad Kissinger Vereins Kidro kennengelernt. Ihren Namen hat sich die Redaktion ausgedacht, ihre Geschichte bleibt an bestimmten Punkten bewusst vage, um ihre Anonymität zu schützen.
Fenn schreibt im Weihnachtsbrief des Vereins: Er habe unter Mias Schminke blaue Flecken entdeckt. Auf der Wange, am Auge und auf der Stirn. Rote Kratzer am Hals. Sie habe sich am Küchenschrank gestoßen, sagte sie. Er habe erneut gefragt, aber sie sei dabeigeblieben. Dann habe er ihr in die Augen geblickt und schließlich gesagt: "Wir wissen beide, dass es nicht der Küchenschrank war, oder?" Sie sei in Tränen ausgebrochen. "Passiert das bei deiner anderen Arbeit?" Kaum merkbar hätten nur ihre Augen geantwortet. "Ja."
"Wir reden hier von Prostitution", sagte Fenn in der Sitzung des Bad Kissinger Sozialausschusses, in dem er Mias Geschichte aufgriff. Es gebe immer wieder Menschen, die die Situationen anderer ausnutzten. "Ich hatte neulich ein Telefonat mit einem Herrn, der sich als ihr Helfer ausgegeben hat. Ob ich mich da nicht raushalten könnte? Er könne doch alles übernehmen."
Menschen, die die Situation ausnutzen
Fenn fand heraus, dass der Mann Mias Dealer sei - eventuell sogar ihr Zuhälter. "Der hat natürlich ein großes Interesse daran, dass ich nicht da bin." In einer anderen Nacht sei Mia mit ihm zur Polizei gefahren und habe den Dealer angezeigt. "Mir geht es nicht darum, den Dealer hochgehen zu lassen", sagt Fenn. Das sei nicht seine Arbeit. "Aber es geht mir darum, dass sich das Mädchen abgrenzen lernt."
Hartz IV-Antrag
Er ergänzt: "Da draußen gibt es eine Welt, die funktioniert anders. Da sagt jemand: Komm, pfeif auf den Hartz IV-Antrag. Von mir kriegst du dein Geld sofort." Zum Vergleich zählt er auf, wie viele Dokumente Mia für den Antrag vorlegen muss: Eine Vollmacht für Kidro, Gründe für den Auszug aus der elterlichen Wohnung, eine Kopie von Mias Ausweis ("den hat sie nicht"), eine Meldebescheinigung, eine Kopie ihrer Krankenversicherungskarte ("die hat sie nicht"), den vollständigen Mietvertrag, sortierte Kontoauszüge ("sie besitzt kein Konto") und viele weitere Dokumente. "Wer auf der Straße lebt und noch nie was mit Bürokratie zu tun hatte, für den ist die Steueridentifikationsnummer ein böhmisches Dorf."
Man könne sich vorstellen, was passiere. "Noch bevor sie überhaupt loslegt, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, wird sie schon aufgeben."
Das passiere, wenn kein Sozialarbeiter da sei, der sage: "Ich schieb' dich da durch." Kidro sei dafür da, Lösungsmöglichkeiten für und mit Menschen zu entdecken. Mia geht derzeit einer Tätigkeit nach.