In der Reichspogromnacht vor 80 Jahren ließen sich auch Bad Kissinger Bürger dazu hinreißen, mitzumachen, wie Hans-Jürgen Beck schilderte.
Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 war kein Ereignis, das aus dem Nichts über die jüdischen Gemeinden in Deutschland hereinbrach., Wie Hans-Jürgen Beck in seinem Vortrag "Die Nacht, als die Synagogen brannten" zum 80. Jahrestag der Pogromnacht erläuterte, gab es bereits vorher signifikante Hinweise, dass man in Kreisen der NSDAP bereits Mitte Oktober 1938 an eine größere antisemitische Aktion gedacht haben muss.
Wenige Wochen zuvor waren die Hauptsynagogen von München und Nürnberg zerstört worden. Aber auch in der Nähe schlug der braune Mob zu: Am 30. September zerschlugen und verbrannten etwa 50 Eindringlinge die gesamte Inneneinrichtung der Mellrichstädter Synagoge. Dann zogen sie plündernd durch die Straßen und schlug die Scheiben jüdischer Geschäfte und Wohnungen ein. Der Schreckenszug, den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels als kollektive Vergeltung für das Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath in Paris in Bewegung gesetzt hatte, hatte die Region erreicht.
Auch in Bad Kissingen gab es Vorzeichen. Beck: "Mitte Oktober 1938 betrat der NSDAP-Kreisleiter Willy Heimbach zusammen mit zwei Parteimitgliedern die Neue Synagoge in Bad Kissingen. Als der christliche Hausmeister Hugo Albert nach dem Grund für den Besuch fragte, erhielt er zur Antwort, dass "die Existenz der Synagoge nur eine Frage der Zeit" sei. Offenbar wollte er eine Bestandsaufnahme dessen machen, was man später zerstören wollte.
Nathan Bretzfelder, Vorsitzender der Kissinger Kultusverwaltung fragte daraufhin beim Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden in München an, was zu tun sei. Eine Antwort ist nicht bekannt. Am 9. November erfuhr die NSDAP-Spitze in München vom Tod von Ernst vom Rath. Das war der willkommene Anlass, um die Aktion in Gang zu setzen.
Die Anordnung, loszuschlagen erreichte Bad Kissingen kurz nach Mitternacht. Allerdings hatte es bereits am Morgen des 9. Novembers auf dem Markt Auseinandersetzungen gegeben. Gegen 0.30 Uhr wurde SA-Obersturmbannführer Emil Otto Walter in der Gaststätte "Saalehof" ans Telefon gerufen. Er solle Gewaltmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Bad Kissingen veranlassen. Insbesondere solle er Wohnungseinrichtungen zerstören und die Synagoge in Brand setzen lassen, jedoch so, dass die Ausführenden nicht als Angehörige der SA erkannt würden. Das tat er mit detaillierten Anweisungen.
Kurz darauf ging die Halle des Autovermieters Hermann Holländer in der Maxstraße in Flammen auf, die Israelitische Kinderheilstätte in der Salinenstraße wurde verwüstet, die Synagoge wurde gestürmt und die Einrichtung mit Hilfe mitgebrachter Strohballen verbrannt. Die Feuerwehr rückte zwar aus, durfte aber erst löschen, als nichts mehr zu retten war. Die Brandstifter zogen weiter durch die Stadt und zerschlugen die Fenster sämtlicher jüdischer Wohnungen und Geschäfte und zerstörten die Einrichtung. Zu "Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Plünderungen", so der Polizeibericht am nächsten Tag, sei es nicht gekommen.
Zwischen 3 und 5 Uhr morgens ließ Stadt- und Badkommissar Dr. Conrath auf Grund der nächtlichen Fernschreiben 28 Kissinger Juden festnehmen und ins Amtsgerichtsgefängnis bringen, unter ihnen die beiden Rabbiner Dr. Moses und Dr. Simon Bamberger. Acht von ihnen kamen aufgrund eines Antrags des Gesundheitsamtes wieder frei. Andere wurden aneinander gekettet und in einem Zug, den die Kissinger am Straßenrand mit antijüdischen Schmährufen begleiteten, zum Jüdischen Friedhof geführt, um dort "belastendes Material" auszugraben - tatsächlich waren es nach orthodoxem Ritus beigesetzte Ritualien.