Blowjob verhindert weitere Haftstrafe für 20-jährigen Hammelburger

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Symbolbild Foto: dpa
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Ein Hammelburger soll ein Mädchen vor fast zwei Jahren sexuell genötigt haben. Neun Stunden verhandelte das Amtsgericht Bad Kissingen. Mit dem letzten Zeugen sorgte der Verteidiger für die Wende und das unerwartete Urteil.

War die Hose geöffnet oder ganz heruntergezogen? Wo war die Handtasche des vermeintlichen Opfers? Auf dem Boden oder über ihrer Schulter? Das Gericht hörte während der Hauptverhandlung in Bad Kissingen viele Versionen von vielen Zeugen. Im Raum stand eine schwere Anschuldigung: Ein 20-jähriger Hammelburger soll eine Bekannte vor zwei Jahren sexuell genötigt haben und das gewaltsam. Für die Entlastung des Angeklagten sorgten am Ende ein paar unvollständige Sätze. Gespeichert als Chat bei Facebook.

Der 30. Januar 2013 war ein Mittwoch. Adam* war bei seinem Kumpel Björn* (*alle Namen von der Redaktion geändert) zum Zocken. Wie so oft. Etwas Alkohol gab es auch. Wie so oft. Doch eine Sache war anders an diesem Abend. Frauenbesuch hatte sich angekündigt. Björn hatte Ann-Kathrin* eingeladen. Er war nicht ganz abgeneigt von ihr. Doch als sie da war und sich zu den Jungs in Björns Kinderzimmer gesellte, hatte sie nur Augen für Adam, den Angeklagten. Zwei Jahre zuvor hatten die beiden so etwas wie eine Beziehung. Sie lernten sich damals in der Hammelburger Hauptschule kennen. Sie gingen nicht im Guten auseinander. Vor Gericht sagt sie, er habe sie damals nur "verarscht", er meint, sie sei ihm nachgestiegen und auf die Nerven gegangen. Ab hier beginnen die gegensätzlichen Aussagen in dem Prozess.

An diesem Mittwochabend im Januar haben Ann-Kathrin und Adam die Wohnung, in der Björn mit seiner Familie lebt, gemeinsam verlassen. Das steht fest. Wer wen begleitet hat, nicht. Auch nicht, wer die Hand des anderen halten wollte. Ann-Kathrin will sich von Adam auf dem Heimweg angeflirtet gefühlt haben. Er habe ihr "einhunderttausend Mal" versichert, dass er sie liebe und sie zurück haben wolle. "Ich war zwar von ihm nicht abgeneigt, aber er hatte ja eine Freundin", sagt die 18-Jährige heute.

Obszöne Worte vor Gericht?

Ihre Anwältin hat einen Stuhl neben sie an den Zeugenstand gerückt. Manchmal, wenn Ann-Kathrin sich nicht sicher ist, ob sie ein obszönes Wort vor Gericht sagen darf, schaut sie sie an. Die Anwältin nickt. "Nur zu, das Gericht hat schon viel gehört."

Ann-Kathrin und Adam wollten gegen 21 Uhr von Björn aus nach Hause laufen, um diese Zeit rechnete ihr Vater zu Hause schon mit ihr. Für beide ist es nicht weit, höchstens eine Viertelstunde. Sie kommen an einem Bahndamm in Hammelburg vorbei. Dort soll das passiert sein, weshalb Adam heute auf der Anklagebank sitzt. Der 20-Jährige hat dunkle Augenringe. Mit seiner hellen Stimme antwortet er ruhig auf die Fragen, die ihm während der Verhandlung gestellt werden.

"Ich hab´ gesagt ich will das nicht", sagt Ann-Kathrin. Langsam und ruhig erzählt sie, dass Adam sie auf einen Weg gezerrt und gegen ein Gebüsch gedrückt haben soll. Dann soll er von ihr verlangt haben, dass sie seinen Penis anfasst. "Er hat seine Hose aufgemacht und meine Hand in seine Unterhose gesteckt", sagt sie. Ann-Kathrin ist ruhig. Sie antwortet auf alle Fragen in der gleichen Tonlage, dumpf und klanglos.

"Damit er mich endlich in Ruhe lässt"

Sie habe ihre Hand immer wieder weggezogen. Er soll ihr unters Kleid gefasst haben. Sie will sich an Sätze wie "Stell dich nicht so an" und "Du willst es doch auch" erinnern. Erst als ihr Handy geklingelt hat und sie ihm drohte, dass ihr Vater schon nach ihr suche und der auch die Polizei einschalten würde, habe er von ihr abgelassen. Außerdem habe sie ihm versprochen, dass sie sich ein anderes Mal treffen können. "Damit er mich endlich in Ruhe lässt." Sie sei zwischen 22.30 Uhr und 23 Uhr zu Hause gewesen.

Adams Pflichtverteidiger holt tief Luft und verdreht die Augen. Immer wieder als Ann-Kathrin dem Gericht von dem Abend erzählt. Er wird von der Staatsanwältin gerügt: "Gibt es ein Problem?" Der Anwalt verspricht, dass sich das später schon noch aufklären würde.

Sein Klient Adam streitet vor Gericht alle Vorwürfe ab und zeichnet für den Richter, die beiden Schöffen und die Staatsanwältin ein völlig anderes Bild dieses Mittwochabends. "Die Beschuldigung ist wie aus einem schlechten Film", sagt der 20-Jährige. Er stützt seine Ellbogen auf den Tisch vor sich und gestikuliert mit den Händen. Schon bei seinem Kumpel habe ihn Ann-Kathrin genervt und viel zu oft nach seiner momentanen Beziehung gefragt. Alles habe sich um ihn gedreht, obwohl Ann-Kathrin doch eigentlich wegen seines Kumpels Björn gekommen war. Als er die beiden alleine lassen und nach Hause gehen wollte, habe sie sich ihm angeschlossen. Immer wieder soll sie auf dem Heimweg nach seiner Freundin gefragt haben und ob er mit ihr glücklich sei. "Ich wollte sie loswerden", sagt Adam. Deshalb sei er dann in eine andere Richtung weitergelaufen. Verabschiedung, Umarmung und weg. Fast. Sie habe noch versucht ihn zu küssen und ihm seine Handynummer abgeleiert, die sie Tags drauf ausgiebig benutzt und ihn regelrecht gestalkt haben soll.


"Zum Sex gezwungen"

Zwei Beteiligte, zwei Geschichten. Mit fünf weiteren Zeugen versuchte das Gericht während der neunstündigen Hauptverhandlung aus den beiden Erzählungen die Wahrheit zu filtern.

Ann-Kathrins damalige beste Freundin war sich auch nach mehrmaligem Nachfragen des Richters sicher: "Sie hat mir erzählt, dass er sie gezwungen hat, mit ihm zu schlafen." Einem Polizeibeamten, dem sich Ann-Kathrin anvertraut hatte, sagte sie, dass Adam sie auf den Boden gelegt habe. In ihrer eigenen Aussage vor Gericht war davon keine Rede. Unklar blieb auch, wo die Handtasche des vermeintlichen Opfers abgeblieben war. Einmal soll sie während des Übergriffs auf dem Boden gewesen sein, dann wieder über ihrer rechten Schulter. Auch das machte am Ende für Richter Matthias Göbhardt den Unterschied. Doch für die Entlastung sorgte der Auftritt des letzten Zeugen: Björn.

In Adams blasse Wangen tritt Farbe. Er und sein Verteidiger rutschen unruhig auf den Stühlen hin und her als Björn in den Sitzungssaal des Amtsgerichts tritt. Die dunklen Haare kleben in Strähnen an seiner hohen Stirn. Sein Blick ist schläfrig. Der 20-jährige Hammelburger antwortet leise und in Fetzen. Er rattert ein paar Fakten zu dem Abend ab, an den er sich nach fast zwei Jahren "eigentlich gar nicht mehr erinnern können kann", wie Richter Göbhardt meint. Die Staatsanwältin glaubt ihm kein Wort: "Überlegen Sie sich gut, ob sie hier eine Falschaussage machen."

Warum sollte er sich so genau entsinnen? Alle Seiten bohren in Björn. Der bleibt bei seinen Wortfetzen. Adam rauft sich die kurzen Haare. "Er ist aufgeregt", flüstert er seinem Verteidiger zu. Irgendwann reicht es dem. Er presst die Lippen aufeinander und teilt ein Blatt Papier aus. Jeder bekommt eines: Richter, Schöffen, Staatsanwältin und Nebenklägerin. Auch Björn. Als Gedankenstütze.

Björn erinnert sich - endlich

Darauf ist ein Ausschnitt eines Facebook-Chats abgebildet, den Ann-Kathrin und Björn zwei Tage nach dem Mittwochabend geführt hatten. Saloppe Sprache, unvollständige Sätze, doch worum es geht, ist allen im Gerichtssaal klar. Björn hat endlich den Mut es auszusprechen: "Ich hab´ sie gefragt, ob sie mir einen bläst."
Sie trafen sich nachts an einer Schule. Ann-Kathrin hielt ihr Versprechen. Adam platzt das heraus, was sich wohl alle im Saal fragten: "Welches normale Mädchen, das sexuell genötigt wurde, bläst am nächsten Tag dem besten Freund einen?"

"Es passt nicht zusammen", sagt die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. "Sie hat uns ganz bewusst angelogen." Ihr Antrag: Freispruch. Das Gericht folgt dem und spricht den Angeklagten frei. Ann-Kathrin habe sich nach dem Vorfall mit Björn vor sich selbst geekelt und ein Netz gestrickt, aus dem sie nicht mehr rauskam. Es gab weder Widerstand noch Hilferufe im Gebüsch. Die zeitliche Abfolge blieb unklar und zu viele Nuancen stimmen nicht überein.

Ann-Kathrin ist mit ihrer jungen Tochter schon weg, als das Urteil fällt. Der Richter kann die 18-Jährige nicht mit dem gespeicherten Chat konfrontieren und sie fragen, ob es wirklich stimmt, dass sie lange gebraucht hat, bis sich ihr neuer Freund ihr körperlich nähern durfte. Ob sie tatsächlich nachts nicht mehr alleine nach draußen geht.

Der Angeklagte und sein Verteidiger sind erleichtert. Doch Adam wandert ohnehin erst einmal für neun Monate ins Gefängnis - eine andere Strafe absitzen.