Die tänzerische Umsetzung der "Carmina burana" durch die Deutsche Tanzkompagnie Neustrelitz im Bad Kissinger Kurtheater blieb ohne echte Höhepunkte.
Bad Kissingen — Ein Name, der fast wie ein Gütesiegel der Alleinstellung auf höchster Ebene daherkommt, "Deutsche Tanzkompagnie Neustrelitz", und eines der berühmtesten Werke der deutschen Musik des 20. Jahrhunderts, Carl Orffs "Carmina burana" versprachen einen vielfarbigen, mitreißenden Ballettabend im Kurtheater in dieser letzten Woche des 16. Kissinger Winterzaubers. Entsprechend den Erwartungen war das Kurtheater praktisch ausverkauft.
Neustrelitz in der Mecklenburgischen Seenplatte ist nicht viel größer als Bad Kissingen und interessanterweise wurde auch das dortige Theater von Max Littmann geplant, fasst aber mehr als 100 Plätze weniger als das Littmanns Bad Kissinger Kurtheater. Und dennoch hat Neustrelitz ein eigenes Theater-Ensemble, sogar ein eigenes Ballettensemble, das 1992 als Stiftung gegründet wurde.
Spitzentanz und Tutu erteilte man dabei eine klare Absage, modernem Tanztheater und volkstümlicher Folklore will man sich nicht zuordnen lassen, sondern irgendwo dazwischen tanzen - als Tourneetheater. Und damit muss es sich vergleichen lassen mit den vielen technisch perfekten, fantasie- und temporeichen, spannenden und in allen Tanzgenres versierten Tournee-Truppen aus Europa, Nord- und Lateinamerika, die dem Kissinger Publikum von Gastspielen präsent sind.
Sozialistischer Realismus Da Orffs "Carmina burana", Lieder aus einer mittelalterlichen Handschrift des Klosters Benediktbeuern nicht abendfüllend sind, stellten die Mecklenburger im ersten Teil des Abends drei kurze Choreographien ihrer Hauschoreographin Kirsten Hocke und von Torsten Händler vor, wie etwa "Erntezeit", einen recht sozialistisch-realistisch wirkenden Tanz um Sensen schwingende Kolchosenschnitter und
Jungbäuerinnen, die aussahen wie aus einer Brechtinszenierung der 50er Jahre oder eine recht interessante Kontrastierung einer Renaissancekomposition Andrea Falconieris mit einem absolut natürlich und in modernem Alltags-Outfit tanzenden jungen Paar.
Was schon ein wenig die Problematik der Truppe zeigte, waren die vielen Variationen zu "Greensleeves", die zutage brachten, dass es an abwechslungsreichen tänzerischen Ausdrucksformen mangelte, dass immer wieder zu großen
Armbewegungen Zuflucht gesucht wurde.
Bildmächtige Inszenierung In ihrer Inszenierung der "Carmina burana" setzte Eva Brehme-Solacolu auf Stephan Dietrichs bildmächtiges Bühnenbild mit den zwei Treppenaufgängen zu einem riesigen Kreis, der wohl das Glücksrad der Fortuna symbolisieren sollte, die in prächtiger Haartracht und Gewand, anfangs in Schwarz, dann in leuchtendem Rot und am Ende wieder Schwarz
vor ihm Aufstellung nahm. Denn das Walten der Fortuna interpretiert Brehme-Solacolu als den Zyklus von Entstehen, Lieben, Sterben: Und so liegen die Tänzer in verschiedenen Zuständen der Verzückung in ihren eisblauen Kostümen auf dem Boden, während der Chor Fortuna besingt und der Tod in schwarzem Schurz seine Fahne über sie schwingt.
Frühling und Tanzvergnügen auf dem Dorfanger bleiben ähnlich verhalten und nur durch die Ankunft des weiß gekleideten Gottes Amor mit Federmaske und Schellenbaum und einiger roter Rosen, die Fortuna in Gestalt der Venus verteilt, berichten vom Erwachen der Natur und der Liebe.
Totentanz Als Höhepunkt ihrer Choreographie hat Brehme-Solacolu die Kneipenszenen um den verkommenen Vagabunden (Estuans
interius), den versoffenen Abt (Ego sum abbas) und die gegen die Vergänglichkeit ansaufenden Männer in der Kneipe (In taberna) als eine Mischung aus Totentanz mit Stoffskeletten und Gothic Punk-Orgie vor dem offenen Höllenfeuer inszeniert.
Da hier schon wild mit dem Tod kopuliert wurde, bleibt der "Cours d'amours", bleiben die recht offenen Bekenntnisse über den Sex, etwa in "Si puer cum puellula" mit seiner "felix coniunctio" immer noch beim Umkreisen und Beobachten
stehen und erst im Bekenntnis einer Frau, dass sie sich im Wettstreit zwischen lasziver Liebe und Scham doch für Ersteres entscheidet (In trutina), kommt es nach lähmender Lustaufschiebung fast die ganze Inszenierung lang endlich zu Umarmungen und einem Anflug von Liebesekstase, die sofort unterbrochen wird von "Dulcissime" mit der wieder ihr Podest ersteigenden Fortuna in "Blanziflor et Helena" und dem wieder heranrollenden Schlusschor "O Fortuna", zu dem der Tod schon wieder seine
Fahne schwingt.
Nichts war's also mit der vielfarbigen Pracht des Mittelalters, nur ein kurzes Aufleuchten der Liebe gab es in einer recht trostlosen, eisblauen, vom Tode beherrschten Welt. Diese war auch tänzerisch nicht wirklich ereignisreich; es gab keine irgendwie spektakulären Hebefiguren, Sprünge, keine wirklich raffinierten Konstellationen, Formationen, Tableaus der Tänzer, wenn man von dem Totentanz einmal absieht.
Sehr häufig wanden sie sich, publikumsfeindlich für die hinteren Sitzreihen, auf dem Boden, tanzten eifrig, aber recht brav und nicht wirklich durchgängig professionell und auch die zu Erotik einladenden Liebes-Pas-de-deux blieben unsinnlich-brav. In den Figuren, Schrittfolgen, Bewegungen gab es viele Wiederholungen und so richtig Begeisterung kam nur auf, wenn Rauch und Feuer etwas Bühnenzauber brachten.
Das Publikum schien insgesamt zufrieden, es gab einzelne Bravos
und Applaus für zwei Vorhänge; die richtig große Feier für die Mecklenburger blieb nach diesem eher braven und gut gemeinten Spektakel aus.