Die Ergebnisse der geologischen, hydrologischen und bauphysikalischen Voruntersuchungen liegen vor. Nun geht es an die Entscheidungen.
Natürlich gibt es Kissinger, denen alles schon viel zu lange dauert, die ungeduldig werden, weil sie das "Projekt Neue Altstadt", also die Kanalsanierung im Bereich der Fußgängerzone, bisher nur in einer Vielzahl von Bohrungen an allem möglichen Stellen wahrnehmen konnten. Aber es gibt jetzt eine gute Nachricht, denn hinter den Kulissen hat sich durchaus viel getan: Die Kanalplaner der Stadt sind jetzt definitiv auf die Zielgerade eingebogen, sie wissen jetzt, dass sie nur noch geradeaus rennen müssen, weil das Ziel jetzt klar definiert vor Augen steht. Oder anders gesagt: Jetzt sind sie sich sicher, wie es geht. Die schlechte Nachricht: Wie lang die Zielgerade der konkreten Umsetzung ist, kann heute noch niemand mit letzter Bestimmtheit sagen.
Man muss sich nur klar machen, dass Thomas Hornung, der Obertiefbauer der Stadt, und sein Team, mit dem Projekt absolutes Neuland betreten haben. Für den Fall einer Kanalsanierung in einem Quellenschutzgebiet mit einer empfindlichen und überlebenswichtigen Tondeckschicht und mit einem Leitungssystem, das genauso undicht bleiben muss wie bisher, damit sich der Grundwasserspiegel nicht absenkt oder erhöht, weil im ersten Fall die Standsicherheit der Gebäude durch Setzungen gefährdet ist, im zweiten die Heilquellen in Mitleidenschaft gezogen werden - für diesen Fall gibt es noch keine Vorbilder oder Erfahrungswerte, an denen man sich bei der Planung orientieren könnte: Einen dichten, undichten Kanal zu schaffen, der die nächsten 100 Jahre klaglos übersteht, daran hat sich bisher noch niemand gewagt.
Jetzt liegen die Ergebnisse der geologischen, hydrologischen und bauphysikalischen Voruntersuchungen mehr oder weniger lückenlos vor, und jetzt können Entscheidungen getroffen werden. Jetzt weiß man beispielsweise, dass im Bereich der Altstadt jede Sekunde etwa ein halber Liter Wasser in den Kanal durchsickert. Das sind 40 Kubikmeter pro Tag oder 266 Normbadewannen. Und das muss exakt so bleiben. Und deshalb mussten vollkommen neue Bauelemente und -materialien entwickelt und getestet werden.
Im Nachhinein sieht alles eigentlich ganz einfach aus. Betroffen von dieser Art der Sanierung sind die Kanäle in der Unteren Marktstraße, dem Marktplatz, der Brunnengasse, der Grabengasse, der Spargasse und der unteren Oberen Marktstraße. Dort werden in diese undichten gemauerten Kanäle dichte Leitungen eingezogen. Das heißt: Zunächst werden eigens entwickelte glasfaserverstärkte Kunststoffschalen eingebaut, auf denen die dichte Leitung dann liegen wird. Da der Kurvenradius der Schalen größer ist als der des ovalen gemauerten Kanals darunter und dadurch , dass diese Schalen auf durchgehenden Schienen oder auch Standstreifen liegen - entsteht ein Freiraum, durch den das Sickerwasser weiterhin abfließen und an in die Saale abgeleitet werden kann - und durch den gegebenenfalls auch Kontrollkameras zur Inspektion fahren können.
Diese Schalen werden aneinandergesteckt wie die Panzerschuppen eines Tatzelwurms. Dann werden sie - und das ist eine echte Knochenarbeit in kauernder Haltung - mit Dübeln und Schrauben etwa in mittlerer Höhe des gemauerten Kanals verankert, damit sie nicht verrutschen. Und damit die Sache wirklich bombenfest steht, werden die Hohlräume an den Seiten von den oberen Kanten bis zu den Standstreifen mit Epoxitharzmörtel verfüllt. Dieser Mörtel ist vermutlich noch in keinem Bauhandbuch zu finden. "Der musste eigens für die Bad Kissinger Verhältnisse von einem Baustofflabor entwickelt und mehrfach getestet werden", sagt Thomas Hornung. Denn da wird eine Quadratur des Kreises erfüllen: Er muss heilwasserresistent sein, er muss absolut stabil und trotzdem wasserdurchlässig sein. Den gab es bisher in keinem Baumarkt zu kaufen - und so schnell wird sich das auch nicht ändern. Die Glasfaserschalen sind übrigens keine Massenproduktion. Denn sie müssen hundertprozentig passen. Deshalb wurden die Kanäle mit Lasertechnik exakt vermessen, vor allem in Kurvenbereichen. Und deshalb wird jede Schale einen zugewiesenen Platz einnehmen.
Und wie kommen dann die dichten Rohre in den Kanal? Lang und fest können sie nicht sein, sonst müsste man aufgraben. Und deshalb haben sich die Kissinger für ein Verfahren entschieden, das durchaus überraschend ist: Die neuen Abwasserrohre werden aus Filz sein, aus ganz normalem, ein Zentimeter dickem Nadelfilz. Allerdings werden sie im Unterschied zu den Hauspantoffeln außen mit einer Beschichtung versehen, die vor Transport- und Einbaubeschädigungen schützt. Aber vor allem: Der Filz ist mit einem besonderen Kunstharz getränkt.
Diese Filz-Inliner, die im Anlieferzustand nicht an Rohre, sondern an überdimensionale Feuerwehrschläuche erinnern und auf Rollen geliefert werden, werden dann in den bestehenden Kanal gepresst. Man stelle sich das vor wie eine Socke, die man nach links gewendet hat und sich dann von den Zehen her über den Fuß zieht. Nur dass die Schläuche nicht nach außen, sondern nach innen gewendet sind und mit Wasserdruck in Position gepresst werden. Das Wasser, das dann die Leitung in Form hält, muss dann nur noch auf 80 Grad Celsius erhitzt werden. Dann härtet das Harz aus, und die neue Leitung wird absolut formstabil. Man könnte diese Härtung auch mit Licht erreichen, müsste den stabilisierenden Druck dann aber aufwendig mit Luft erzeugen. Dann fehlen nur noch die Hausanschlüsse. Aber das ist eine andere Geschichte.