Wäre heute Krieg, so hätten die Wildfleckener keine Smartphones mehr, der Bürgermeister müsste entscheiden, welche Familie ein Auto abgibt, und der Kämmerer würde sich über eine Gehaltserhöhung freuen. Absurd? Ganz und gar nicht...
Als Erhard Schumm von der Front in die Rhöner Heimat zurückkehrte, war er auf einem Auge blind. "Ein Granatsplitter hatte ihn getroffen", erinnert sich Renate Helfrich, geborene Schumm. Als Kind schaute sie immer auf dieses Auge, das sich durch die Verletzung verfärbt hatte. Das war der Krieg, so viel wusste das Mädchen. "Aber viel erzählt worden ist da nicht", blickt Helfrich zurück. Als sie elf Jahre alt war, starb ihr Großvater.
Jahrzehnte später meldet sich der Krieg zurück. Herbert Vorndran, der Nachbar der Helfrichs, findet eine Collage auf einem alten Schrank. Das Bild zeigt die Gesichter der Männer, die von Wildflecken aus in den Krieg zogen. Erhard Schumm ist auch darauf zu sehen. "Wer die Collage auf den Schrank kommt, weiß ich nicht", sagt Vorndran. Auch wer in mühevoller Arbeit die schwarz-weiß Fotografien zusammengetragen hat, ist in Vergessenheit geraten. Die Namen aber, die Namen der Gefallenen sind bekannt.
Bilanz des Krieges: 58 Tote 17 Namen (1914 bis 1918) stehen auf der Gedenktafel im Eingangsbereich der Kirche St. Josef in Wildflecken. In der Ortschronik von Wildflecken finden sich die Namen von 18 gefallenen Wildfleckenern. Am Aufgang zur Kirche befindet sich das eigentliche Kriegerdenkmal. Sieben Gedenksteine mit den Namen der Gefallenen beider Weltkriege und eine Christusstatue mahnen zum Frieden. In Oberbach erinnern zwei Tafeln in der Kirche an die Toten des Ersten Weltkrieges. 40 Namen sind in den Stein eingearbeitet. Der Ortsteil Oberwildflecken entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch hier erinnert ein Ehrenmal an die gefallenen Soldaten der Weltkriege.
"Die Betroffenheit unter den Menschen war groß", sagt Gerwin Kellermann, der die Chroniken für Wildflecken und Oberbach geschrieben hat. Habe der Krieg in größeren Städten für viel Euphorie gesorgt, so sei davon auf dem Lande nicht viel zu spüren gewesen.
"An dem Tage, da das Ultimatum (Österr. gegen Serbien) nicht beantwortet war, da war im Orte alles voller Aufregung", schrieb vermutlich der damalige Lehrer. Der Auszug aus den Aufzeichnungen zur Orts- und Schulgeschichte wird in der Wildfleckener Chronik zitiert.
"Alles voller Bestürzung. [...] Auch in den Gaststätten ging es sehr ruhig und ernst zu." Drei Stunden lang versammelten sich die Menschen vor der Post, um auf das Telegramm zu warten, dass die Mobilmachung am 2. August 1914 befahl.
"An jenem Samstagabend flossen die Tränen hinter verschlossenen Türen. Schlaflose Nacht in gar mancher Familie..."
Menschenhaar wird gesammelt Schlag auf Schlag veränderte sich das Leben. Die Oberbacher Kinder bekamen erst einmal bis zum 15. Oktober 1914 schulfrei. Ein kommunales Bauprojekt - der Weg von Oberbach hinauf zum Hahnenknäuschen - wurde mit Hilfe von russischen Kriegsgefangenen (zum Beispiel aus Oberleichtersbach, siehe voriger Serienteil) sehr kostengünstig verwirklicht werden. Ab 1915 wurde die Straße, die noch heute als "Russenstraße" bekannt ist, gebaut. 1917 war sie fertig. Und noch einen positiven Effekt brachte der Krieg mit sich:
"Für die vermehrte ,Kriegsschreiberei' erhielten Bürgermeister, Gemeindeschreiber und Polizeidiener 1915 eine Erhöhung ihrer Besoldung, 1918 wieder", berichtet die Wildfleckener Ortschronik.
Es gab aber auch eine dunkle Kehrseite des Krieges. Die toten Soldaten, natürlich. Aber je länger der Krieg dauerte, umso größer wurde die Belastung für die Menschen. "Kriegswichtige Stoffe" wurden eingesammelt, darunter Metalle - zum Beispiel die Zinndeckel auf Bierkrügen - und sogar Menschenhaar, das für technische Dichtungen in der Rüstungsproduktion gebraucht wurde. Im Winter 1917/18 wurden die Nahrungsmittel so knapp, dass jede Gemeinde verpflichtet wurde, Schlachtvieh abzugeben. "Da musste der Bürgermeister durch den Ort gehen und entscheiden, welche Familie als nächstes ein Rind abzugeben hatte", berichtet Kellermann.
Gefangene helfen beim Löschen Als wäre das noch nicht genug, setzte das Schicksal Jahr für Jahr noch eins drauf: 1916 brach die Maul- und Klauenseuche in Wildflecken aus. 1917 gab es einen Brand - den die Kriegsgefangenen löschen halfen. Und 1918 sorgte eine gefährliche Grippe, die sich seuchenartig verbreitete, für viele Tote.
"Aus einem Haus wurden im Zeitraum von vier Wochen vier Leichen zu Grabe getragen. - Eine Mutter verlor innerhalb nur einer Stunde zwei ihrer Kinder", heißt es in der Wildfleckener Ortschronik.
Man stelle sich vor, heute wäre Krieg: Die Fußballfelder wären verwaist, die Menschen müssten Autos und Smartphones abgegeben wegen der "kriegswichtigen Stoffe", die darin verbaut sind. Für ältere Leute wie Gerwin Kellermann ist dieses Szenario real. "Natürlich beträfe mich das ganz konkret", sagt der ehemalige Lehrer aus Oberbach. "Wenn ein Land zerschlagen wird, betrifft das immer alle" - die Soldaten an der Front und die Familien zuhause. Das gilt heute genauso für die Ukraine oder den Irak wie vor 100 Jahren für Deutschland.
Die Erinnerung an die Toten von damals lebt weiter. Jedes Jahr lädt die Gemeinde ihre Bürger zum Volkstrauertag ein. Die Feier findet sabwechselnd in Wildflecken, Oberwildflecken und Oberbach statt. Und abseits der Zeremonien gibt es treue Hände, die über Jahre und Jahrzehnte die Stätten der Erinnerung pflegen: In Wildflecken waren das lange Ottmar und Renate Bohn. Nun bringen sich Rosemarie Kunisch und Ingrid Breitenbach ein. In Oberwildflecken kümmern sich Ralf und Helga Runschke um das Ehrenmal an der Kreuzbergstraße.