Der deutsche Sozialstaat steht vor großen Reformen. Bei "Markus Lanz" (ZDF) sinnierte Karl Lauterbach nicht nur über das reformbedürftige Gesundheitssystem. Er redete sich auch in Rage, als es um die gefühlte Ungerechtigkeit ging, die viele Wähler zur AfD treibe.
Das schwache Ergebnis der SPD bei der jüngsten Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen war für viele Parteimitglieder ein übler Warnschuss. Auch Karl Lauterbach bezeichnete das Ergebnis als "bestürzend" und warnte, dass es "vielleicht die letzte Warnung" sei. Bei "Markus Lanz" versuchte der SPD-Politiker gleichzeitig, die Gründe für die Erfolge der AfD zu ermitteln.
Ein wichtiger Aspekt sei das Thema Migration. Laut Karl Lauterbach dürfe die Asylreform jedoch nicht Asylsuchende benachteiligen. Lediglich die irreguläre Migration könne in Deutschland "nicht mehr akzeptiert werden" und sei vor allem "in den Kommunen (...) nicht mehr vermittelbar". Eine Aussage, die Markus Lanz irritierte: "Das klingt jetzt so einfach. (...) Wie wollen Sie das denn in der Praxis dann unterscheiden? In der Konsequenz müssten Sie dann ja bereit sein, zu sagen: Dann stellen wir das Asylsystem, so wie es ist, infrage. Dass jeder, der sozusagen an die Grenze kommt und das Wort Asyl sagt, auch Anspruch auf ein Verfahren hat."
Lauterbach reagierte vorsichtig: "Das Ziel muss auf jeden Fall sein, dass man das trennt. Das muss man der Bevölkerung glaubwürdig mitteilen können." Zeitgleich sagte der SPD-Mann in Bezug auf die Wahlerfolge der AfD: "Ich glaube nicht, dass die Migrationsfrage alleine entscheidend ist." Der Politiker erklärte: "Es sind so viele Ungerechtigkeiten, die erlebt werden. (...) Jetzt steigen auch noch die Mieten ständig, die Nebenkosten. Bauen kann man nicht mehr." Das Ergebnis? Laut des SPD-Mannes sage ein Großteil der Bevölkerung mittlerweile: "Das ist hier alles ungerecht. Wir machen das nicht mehr mit."
Karl Lauterbach kritisiert "diese Verharmlosung" von Ökonom Martin Werding
Ökonom Martin Werding konnte dem nicht zustimmen. Er konterte: "Herr Lauterbach, Sie malen jetzt das Bild sehr viel schwärzer, als es in Wirklichkeit ist." Werding fügte mit ernster Miene hinzu, dass die Aufstiegsmöglichkeiten "vor 30 Jahren sicher besser" gewesen seien, aber die Lage in Bezug auf "den Grad an Ungerechtigkeiten" durchaus besser sei, als Lauterbach schildere.
Dennoch musste er zugeben: "Uns steckt in den Knochen, dass wir seit fünf Jahren nicht mehr wachsen. Das ist ein Riesenproblem." Trotzdem sei laut Werding die Darstellung von Lauterbach "ein bisschen zu düster", da "noch nicht alles schlecht" sei: "Wir müssen ein paar Motoren wieder in Gang kriegen und wir brauchen Reformen." Lauterbach hielt jedoch weiter dagegen und kritisierte "diese Verharmlosung" des Ökonomen: "Ich bleibe bei meiner Haltung. (...) Die Leute erleben das doch!" Laut des Ex-Gesundheitsministers seien "50 Prozent der Bevölkerung (...) nicht in der Lage, eine kleine Reparatur am Auto oder eine Reise zu bezahlen".
Grund genug für Markus Lanz, genauer nachzuhaken: "Deswegen machen die das Kreuz bei der AfD, Herr Lauterbach?" Der SPD-Politiker nickte: "Ja, ich glaube, dass das so ist." Martin Werding fügte hinzu, dass die Wähler der AfD jedoch "nicht diejenigen" seien, "die bereits alles verloren haben", sondern vielmehr "Leute, die noch etwas zu verlieren haben und die eben in die Zukunft projizieren und sagen: Es wird immer schlechter. Und genau dieses Thema Migration bringt das ja alles zusammen."
Laut Werding komme auch "eine Sorge um Identität" hinzu. "Aber es geht eben auch um Verteilungskonflikte", so der Experte, der zeitgleich auf "den vermeintlichen Kontrollverlust des Staates" aufmerksam machte.