Eine Nation - zwei Gesichter

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Die Flagge auf dem Dach der US-Botschaft in Berlin weht am 16.12.2012 auf Halbmast.
Die Flagge auf dem Dach der US-Botschaft in Berlin weht am 16.12.2012 auf Halbmast.

Wieder ein Amoklauf: Die USA müssen inzwischen mehr Angst vor dem eigenen Bürger haben als vor Terroristen.

Im Kampf gegen den internationalen Terror tritt die Nation wie ein entschlossener, scharfe Zähne fletschender Tiger auf, der mit Verbündeten auch schon einmal eine Beute reißt, deren Schuld noch nicht zweifelsfrei geklärt ist. Dagegen gleicht die USA einem von der Waffenlobby gezähmten, sogar zahnlosen Raubkätzchen, geht es darum, mit einer Beschränkung der Freiheit der eigenen Bürger die Sicherheit im Land zu erhöhen.

Die nationale Tragödie in Newtown unterstreicht: Die USA schützen Waffen stärker als ihre eigenen Kinder. Auf fünf Prozent der Weltbevölkerung kommen dort mehr als ein Drittel der weltweiten Schusswaffen in privatem Besitz. Den rund 3000 Menschen, die bei den Anschlägen auf das World Trade Center ums Leben kamen, stehen jährlich rund 30.000 Personen gegenüber, die in den USA durch Schusswaffen sterben. Bei 40 Prozent handelt es sich um Tötungsdelikte.

Die Stadt Newtown schreibt das nächste Kapitel des Amok-Wahnsinns in den Vereinigten Staaten. Es folg(t)en Emotionen der Empörung, Wortgefechte zum Waffenbesitz, Tränen der Trauer. Diese sind noch nicht vertrocknet, kehrt Massaker-Routine ein: Die tief verwurzelte Waffengläubigkeit vieler Amerikaner gewinnt - begünstigt durch die Waffenlobby - wieder die Oberhand. Der New Yorker Bürgermeister, ein beharrlicher Mahner, den Waffenbesitz zu beschränken, wird in die Ecke der Spielverderber gerückt. Keines dieser Dramen hat bisher eine echte Debatte über schärfere Waffengesetze in den USA ausgelöst.

Warum kann das dieses Mal anders werden? Erstens: Weil dieser Amoklauf die nationale Seele, in der bisher das Gewehr einen festen Platz hatte, brechen könnte. Opfer sind die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft. "Die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten", wie der Präsident unter Tränen feststellt. Zweitens: Weil Obama, gerade im Amt bestätigt, nicht mehr um eine Wiederwahl bangen muss. Er hat alle Chancen, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten in sicherere Schranken zu weisen. "Four more years": Obamas prägende Worte in der Wahlnacht dürfen nicht für den freizügigen Waffenbesitz in den USA gelten.