Christian Gerhaher: "Lieder sind keine Dramen"

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Bariton Christian Gerhaher. Foto: Michael Gründel
Bariton Christian Gerhaher. Foto: Michael Gründel
Portraitfoto von Christian Gerhaher. Foto: Michael Gründel
Portraitfoto von Christian Gerhaher. Foto: Michael Gründel
 

Der Ausnahmesänger ist am Samstag und am Sonntag mit Gustav Mahlers "Kindertotenliedern" in der Bamberger Konzerthalle zu erleben. Auf dem Programm des Symphonikerkonzerts stehen außerdem Richard Wagners "Lohengrin"-Vorspiel und die "Frühlingssymphonie" von Robert Schumann.

Sein Understatement ist keine Pose. Der lyrische Bariton Christian Gerhaher ist, auch wenn er inzwischen international als singulärer Liedinterpret des 21. Jahrhunderts gefeiert wird, eher ein Grübler. Was ihn unter anderem dafür prädestiniert, die "Kindertotenlieder" von Gustav Mahler zu singen. Am Samstag und am Sonntag ist der 43-Jährige damit in der Konzerthalle zu erleben, zusammen mit den Bamberger Symphonikern unter Robin Ticciati.

Erinnern Sie sich noch, wie Sie als Kind zum ersten Mal mit dem Tod in Berührung gekommen sind?

Christian Gerhaher: Doch, schon, aber nur als Vorstellung und nicht, weil mir nahestehende Menschen gestorben sind. Diese Vorstellung hat mir Angst gemacht.

Sind Sie selber schon dem Tod nahe gewesen, durch den Morbus Crohn?

Nein, so schlimm war es nie. Ich habe auch nicht nur wegen dieser Krankheit Medizin studiert. Ich fand die Medizin aus verschiedener Hinsicht interessant. Vor allem liefert dieses Studium, das ich auch abgeschlossen habe, ein umfassendes Menschenbild.

Ihr Handwerk als Sänger haben Sie praktisch auf Umwegen gelernt?

Und viel aus eigener Erfahrung, denn ein Doppelstudium war mir nicht erlaubt. Ansonsten bin ich der Meinung, dass das Singen nur schwer als solches zu erlernen ist. Auch ein guter Lehrer kann nur Anregungen und Eingrenzungen geben.

Ihre Kinder sind jetzt fünf, acht und zwölf. Kennen sie schon die Kindertotenlieder?

Nein, das möchte ich auch nicht, denn es ist ein Grenzbereich: Der Tod an sich ist nichts Belastendes, der Tod eines Kindes schon. Wenn man das über die Zeitläufte hinweg betrachtet, hat sich doch einiges geändert - schon rein medizinisch, in der Reduktion der Kindersterblichkeit, und in der Wahrnehmung ebenso. Früher sind doch sehr viele Kinder durch Seuchen und Infektionskrankheiten gestorben. Man weiß, wie erschütternd es für Johann Sebastian Bach und für viele andere war, ihre Kinder zu verlieren. Es war eine Zeit, da gehörte der Kindstod einfach zum Leben. Aber er konnte eben nicht akzeptiert werden - der Tod eines Kindes. Deshalb habe ich auch Probleme mit dem fünften Lied, wo der Kontrast zwischen dem Gewitter und dem Schluss so stark ist, dass ich mich dafür schäme.

Welches der fünf Lieder ist Ihnen näher?

Nummer eins gefällt mir besser. Es ist eher weltanschaulich, puristisch. Dann Nummer drei, "Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein". Man sieht es fast vor Augen: Es ist wahrscheinlich schon Abend, ein Mann am Schreibtisch, in der Tür steht links das Mütterlein, rechts an ihrer Hand wäre das Kind - ein natürliches Bild. Aber neben der Mutter ist nicht das Kind, sondern ein weißer Fleck. Es bleibt da etwas übrig. Dieser Verlust ist nicht verwindbar, diese offensichtliche Wahrheit ist schwer erträglich.

Sie haben in einem Interview gesagt, wenn ein Lied ein Orchesterlied ist, ist es eigentlich kein Lied mehr. Worin genau liegt für Sie der Unterschied zwischen Orchester- und Klavierfassung?

Natürlich ist dieser Satz überspitzt und provokativ, trotzdem stehe ich dazu und weiß auch, warum ich das gesagt habe. Das Besondere am Lied ist, dass der Gesang sich farblich äußern kann, dass er nicht mehr nur aus Vokalfarben und Dynamik besteht, sondern dazu Stimmfarben hat. Das Orchester selbst ist ebenfalls polychrom, vielfarbig, während das Klavier monochrom ist - deswegen natürlich nicht reizlos, aber die polychrom geführte Gesangsstimme ist hier gestalterisch besonders frei. Ein anderer Aspekt dieses Satzes ist, dass das Lied etwas ist, das zusammen mit dem Klavier entstanden ist. Insofern würde ich fast sagen: Wenn Schubert-Lieder orchestriert werden, wird die Sache geradezu umgekehrt.

Warum ist Mahler für Sie - neben Schubert und Schumann - der große Liedkomponist?

Mahler hat zwar nur wenige Lieder geschrieben - er hat überhaupt nur wenige Genres bedient -, aber er ist dabei einen wesentlichen Schritt weiter gegangen. Das Lied ist in erster Linie eine Erscheinung der Romantik, entsteht aus einem Gedicht heraus, das eine gewisse Form hat, die allerdings keine musikalische Form ist und sich auch nicht in der Erfüllung einer musikalischen Form weiterdenkt. Bei Mahler ist das anders. Er hat den Text als Grundlage genommen, hat ihn aber nicht vertont, sondern assoziativ durch die Musik zu einer neuen Deutung gebracht. Durch dieses Schimmern und Oszillieren der Bedeutungsebenen von Musik und Text entsteht etwas.

Was macht einen großen Liedinterpreten aus?

Das kann ich so nicht sagen. Ich kann bestenfalls sagen, was ich persönlich finde - und das ist nicht apodiktisch gemeint. Mein Prinzip ist, Lieder Lieder sein zu lassen. Das heißt, keine Minidramen draus zu machen, denn es sind keine Dramen. Lieder sind lyrische Gebilde - und lyrische Gebilde erschöpfen sich darin, nicht vollkommen konkret, nicht vollkommen erklärbar sein zu wollen. Ein Gegenbild wäre die italienische Oper - Verismo, Verdi auch -, die mir umso geglückter erscheint, je konkreter und klarer sie eine dramatische Situation ist.

Ein lyrischer Gedanke hingegen wird nicht dadurch besonders gut, dass er zu hundert Prozent beschreibbar, abbildbar, erklärbar ist. Sondern er wird dadurch besonders gut, dass er viele Dinge anspricht und viele Wahrheiten ahnen lässt, aber sich auf keine festlegt. Lieder sind eher Ahnungen, sind eine zu Abstraktion neigende Kunst. Wenn heute, in der Nachfolge von Fischer-Dieskau, versucht wird, sein Erbe beiseite und wieder mehr Sentimentalismen zuzulassen, finde ich das nicht gut.

Fühlen Sie sich eher als Berichterstatter?

Nein. Weil das Lied auch kein Epos ist. Es gibt natürlich epische Teilformen, beispielsweise "Die schöne Müllerin", die eher als Erzählung zuzuordnen ist. Nein, ich berichte nicht. Ich fühle mich eher als Teilhaber einer Soiree des gemeinsamen Erkennens, denn so wie das Publikum höre auch ich der Musik zu - und habe dabei eine mediale Funktion.


Können Sie definieren, wann es Ihnen zu gefühlig wird?
Vielleicht, wenn dem Verstehen-Wollen zu sehr nachgegeben wird.

Wo beginnt, wo endet die Identifikation?

Identifikation, was ist das schon? Ich glaube, keiner wird so verrückt sein, sich selbst als ein lyrisches Ich zu sehen. In der Oper ist das anders, dort darf es konkreter sein, weil der Illusionscharakter sogar räumlich gegeben ist. Darsteller einer dramatischen Rolle zu sein, heißt ja auch nicht, dass man sich mit der Rolle identifizieren muss. Für mich ist immer noch eine gewisse Distanz da - und das ist nicht negativ fürs Publikum. Ich finde, man muss einfach die verschiedenen Rollen, wie Musik darzustellen ist, klarer sehen - und die Persönlichkeit des Darstellers selbst ist auf jeden Fall von wenig Interesse.

Was haben Sie von Dietrich Fischer-Dieskau gelernt?

Es wird häufig gesagt, dass er lauter Abziehbilder hinter sich gelassen hat und dass Imitation kein Weg sei, eine Kunst zu erlernen. Das halte ich für falsch. Natürlich habe ich als Student versucht, so zu singen wie er. Manches ist dabei gelungen, manches nicht. Vor allem aber ist mir dabei aufgegangen, dass ich einen Weg zu mir selbst finden muss. Was sollte schlecht daran sein, als Ausgangspunkt eines Lernens zu imitieren? Wodurch sollte ein junger Mensch eine autonome Künstlerpersönlichkeit sein können? Etwa durch Technik?

Es gibt technische Schulen, die meinen allen Ernstes, dass man durch ein Sammelsurium an Übungen, die in gewissen Kombinationen zu vielen Möglichkeiten führen, allen technischen Anforderungen, die ein Sängerleben einem stellen wird, prospektiv schon mal abdecken kann. Wie kann man nur auf so was kommen? Natürlich braucht man Technik, aber man darf sie nicht überbewerten, sonst ist das eine Missachtung des Eigentlichen, was man künstlerisch zu tun hat: Nämlich sich dem Werk an sich erst zu öffnen, dieses Werk mit einer Idee zu verbinden und dann zu versuchen, die Idee umzusetzen.

Noch ein paar Namen: Was verbinden sie mit Elisabeth Schwarzkopf, Hermann Prey und Gerold Huber?

Mit Elisabeth Schwarzkopf verbinden mich vor allem ein paar großartige und vorbildliche Aufnahmen, zum Beispiel die "Vier letzten Lieder" und ihre wunderbar artifizielle und stiliserte "Rosenkavalier"-Marschallin. Wenn die Marschallin zu natürlich ist, verfehlt sie ihre Wirkung. Hermann Prey ist für mich sehr wichtig, ist teilweise mein großes Vorbild. Er hat mich, als ich zu studieren anfing, bei einem Liederabend so beeindruckt und für das Lied an sich begeistert, dass ich sofort meinen Freund und Klavierpartner Gerold Huber gebeten habe, die "Dichterliebe" mit mir einzustudieren. Es ist schon erstaunlich, dass und wie wir beide uns so entwickelt haben.

Dieter Borchmeyer hat den schönen Satz gesagt, dass beim Publikum bei Ihnen die Tränen lockerer sitzen als bei anderen Sängern. Können Sie sich das erklären?

Nein. Wenn denn Tränen kommen, ist wichtig für mich, dass es nicht aus Sentimentalität geschieht, sondern dadurch, dass ich versuche, diese Werke mit einer distanzierten klaren Haltung aufzuführen und zur Disposition zu stellen, ohne meine Persönlichkeit belastend ins Spiel zu bringen. Das heißt nicht, dass ich nicht emotional wäre, ich bin sogar sehr emotional! Aber ich verstelle nichts durch die eigene Emotionalität. Vielleicht ist dann eine Träne möglich. Die Tragik des Sängers besteht ja darin, dass er sich selbst nicht hören kann.

Sie sehen sich selber auch eher skrupulös, achten darauf, was Sie nach außen hin für ein Bild abgeben. Und machen vor allem nicht alles mit, was Marketingleute so gerne hätten.
Ich finde es einfach peinlich, wie ein Model zu posieren! Das will ich nicht. Außerdem würde da auch meine Frau protestieren.

Sie können es sich aber auch leisten, nein zu sagen.

Ja, und dieses Anti-Marketing ist auch etwas meine Rolle. Die Leute denken, ich wäre so intellektuell, aber das bin ich gar nicht. Stellen Sie sich vor, Sie sind Sänger, haben 25 Lieder zu singen, müssen auf die Bühne und vor Ihnen sitzen tausend Leute mit bestimmten Erwartungen. Um das auszuhalten, muss man sich angewöhnen, Scheuklappen aufzusetzen und nicht zu versuchen, sich mit Augen von außen zu sehen. Selbstreflexion hilft da auch nicht, und auch kein Hochglanzfoto. Man muss sein Ding machen, muss das machen, was geht.

Auf der einen Seite ist man ja unsicher, deshalb ist Eitelkeit ist bei Sängern, bei darstellenden Künstlern nicht wegzudenken, gehört zum Beruf, muss sogar sein, denn sie ist ein Garant für künstlerische Kontinuität und Entwicklung. Wenn man den Beruf einmal erwählt hat, muss man sich auch der Wahrnehmung von außen stellen - jeder auf seine Weise. Ich habe das Glück, es auf meine Anti-Weise tun zu dürfen, was echte Vorteile hat, denn ich muss keine seltsamen Foto-Shootings machen, muss auch nicht zu viel über meine eigene Persönlichkeit sprechen, sondern mehr über die Inhalte der Stücke, die ich singe. Allerdings wäre es mir auch nie gelungen, es anders zu machen. Und ich sage nicht, dass das unbedingt positiv ist, denn wer grübelt, hat's nötig.

Was verbinden Sie mit den folgenden Ortschaften: Würzburg...?

... mein erstes Engagement. Dort bin ich zwei Tage nach meinem 3. Staatsexamen gewissermaßen ins kalte Wasser gesprungen. Es war eine tolle Zeit, schon weil Unterfranken eine der reichsten Kulturlandschaften in Bayern ist, mit seinen großen steinernen Kirchen und Bauten, den herausragenden Bildhauern und so weiter. In Verbindung mit dem Wein finde ich Unterfranken viel schöner als beispielsweise oberbayerische Dörfer mit Lüftlmalerei. Aus meiner Zeit am Würzburger Theater habe ich immer noch viele gute Freunde, wie den damaligen Intendanten Tebbe Harms Kleen und meinen ersten GMD Jonathan Seers. Es war schön, aber ich habe auch manches erlitten - zum Beispiel, dass ich als Homonay im "Zigeunerbaron" auftreten musste. Ich hasse diese Musik, ich hasse diesen Schmäh, diesen Chauvinismus, diese Menschen verachtenden Themen, ich hasse die Operette aus tiefstem Herzen.

Aber Sie waren doch unlängst erst Eisenstein in der Frankfurter "Fledermaus"?

Eine Ausnahme! Mit dem Regisseur Christof Loy habe ich "Die Fledermaus" gerne gemacht, denn da wurde die Operette selbst zum Thema.

Zurück zu den fränkischen Städten: Bayreuth...?

Als Student durfte ich zum ersten Mal zu den Festspielen, ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde, "Parsifal", und ich saß in der 3. Reihe. Das hallt bis heute in mir nach.

Und "Tannhäuser"?

Habe ich zum ersten Mal in München gesehen, in einer Inszenierung von David Alden, in der ich als Wolfram später dann selbst mein Debüt an der Staatsoper hatte. Der erste Tannhäuser, den ich erlebte, war René Kollo. Ich finde, er ist einer der besten Heldentenöre wegen seines silbrigen und klaren Klangs. Meine Stimme ist vielleicht ähnlich hell. Im Auto habe ich immer mitgeschmettert, wenn er im Radio Lohengrin oder Siegmund gesungen hat.

Aber im richtigen Leben sind Sie kein Tenor.

Nein, denn auch der Pelléas ist ein Zwischenfach. Die Uraufführung hat ein Bariton gesungen. Ausschlaggebend ist hier nicht die Frage, ob Tenor oder Bariton, sondern eine luzide Sprache, die mit einer hellen Stimmführung einhergeht.

Welche Rollen im Wagnerfach werden Sie noch singen? Beckmesser wie Hermann Prey?

Nein, auf keinen Fall. Das ist eine Charakterrolle, mit der man riskiert, seine lyrische Kompetenz aufs Spiel zu setzen. Außerdem sollte er nicht lyrisch gemacht werden: Er ist ein Antipode, den dieses Stück dringend nötig hat. Der Amfortas wird mir oft angeboten, aber er ist vielleicht gefährlich für mich. Was ich von Wagner gern singen würde, sind zwei Rollen: der Hirt im 3. Aufzug von "Tristan", auch wenn das nur drei Sätze sind, und der "Rheingold"-Mime. Als sonstiger Tenorausflug würde vielleicht noch der Evangelist gehen.

Ihre nächsten Opernprojekte, nach dem Marquis Posa in Toulouse?

"Don Giovanni" in Frankfurt, wieder mit Christof Loy, und "Orfeo" in München.

Sie arbeiten gerne mit bestimmten Regisseuren zusammen.

Aus guten Gründen. Ich könnte mir im Regietheater noch eines vorstellen: Dass die großen Regisseure wie Loy und Claus Guth kombiniert würden mit etwas wechselnderen, flexibleren und auch wieder illusionistisch-bildhafteren Ausstattern. Das fehlt mir.

Unter den fränkischen Städten fehlt jetzt noch Bamberg.

Eine der schönsten Städte, die ich kenne...

Mit einem...

... herausragenden Orchester.

Und Herzogenaurach?

Sie sind mir zu privat! Meine Frau kommt aus Herzogenaurach, mein Schwager ist dort Bürgermeister, dem ich mich eigentlich gar nicht zu sagen getraue, dass ich Sport für nichts als einen großen Irrtum halte.

Weitere Links:
www.gerhaher.de
www.bamberger-symphoniker.de